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Windkämpfer

Windkämpfer

Titel: Windkämpfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Redick
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höheren Oberdeck der Chathrand empor.
    Auf dieses Tau aufzuspringen war nicht weiter schwierig, aber das Aufwärtsklettern war furchtbar. Wer sich jemals an einem nassen, schlüpfrigen Baum hinaufgezogen hat, mag eine gewisse Ahnung von den ersten Minuten haben. Nun stelle man sich vor, der Baum wäre nicht nur sechs- oder siebenmal so groß wie man selbst, sondern zweihundertmal, und er hätte keine Äste, wäre aber stattdessen mit einer Schicht aus Teer, Algen und scharfen Muschelsplittern überzogen. Weiterhin male man sich aus, er hätte keine Rinde, die Füße fänden nirgendwo Halt, und er schaukelte und drehte sich mit jeder trägen Bewegung des schwankenden Schiffs.
    Immer nur aufwärts, Hand über Hand. Sie waren noch sechzig Fuß vom Deck entfernt, als die Sonne über den Horizont stieg und unter den Regenwolken hervorspitzte. Dri wusste, dass sie nun ungeschützt dem Blick jedes Riesen preisgegeben waren, der zufällig in ihre Richtung schaute. Zoll für Zoll kämpfte sie sich mit blutenden Händen an dem rauen Seil empor, ständig gefasst auf den Schrei: »Kriechlinge! Kriechlinge am Tau!«
    Der letzte Alptraum war der Rattentrichter: ein breiter Eisenkegel, der über dieses und alle anderen Haltetaue geschoben wurde, um zu verhindern, dass die Plagegeister auf dem gleichen Weg aufs Schiff gelangten, den die Ixchel jetzt nehmen wollten. Die Öffnung zeigte wie bei einer Glocke nach unten und war so weit, dass keiner von ihnen mit den Händen den Rand erreichen konnte. Dri und Taliktrum hatten in einem Tempel in Etherhorde an einer echten Glocke geübt, aber dieser Kegel war unendlich viel schwieriger. Er wog mehr als sie alle zusammen.
    Zwei von den Ixchel aus Ost-Arqual kletterten in den Trichter, stemmten sich mit den Schultern gegen die Wand und drückten mit den Füßen gegen das dicke Tau. Sie keuchten und schwitzten, aber es gelang ihnen, den Trichter auf eine Seite zu schieben. Dri und Taliktrum umschlossen das Tau mit den Beinen, als ritten sie auf einem Pferd, und lehnten sich mit dem Oberkörper über den Rand. »Los!«, blaffte Dri, und die anderen benützten ihren Rücken und ihre Schultern als Stufen und kletterten über sie beide hinweg. Dann hieß es »Hinaus!« für das Paar im Trichterinneren, und Dri hörte, wie Taliktrum neben ihr die Luft durch die Zähne zog. Auch sie spürte es: Das Gewicht des Kegels drohte ihr den Brustkorb zu zerreißen. Die beiden aus Ost-Arqual krochen an ihren Beinen vorbei aus dem Trichter, drehten sich auf dem Tau (schneller, bei Rin, beeilt euch! ) und kletterten wie die anderen über ihren und Taliktrums Körper nach oben. Ihr Neffe fauchte vor Schmerz und fletschte die Zähne. Aber gemeinsam konnten sie das Gewicht halten.
    »Jetzt du, Tantchen«, flüsterte er.
    Dri schüttelte den Kopf. »Du zuerst.«
    »Ich bin der Stärkere …«
    »Geh schon! Befehl!« Mehr brachte sie nicht heraus. Doch er sträubte sich immer noch! Er blickte auf ihre gemarterten Rippen hinab und schien zu überlegen. Endlich löste er seinen Griff und schnellte sich so akrobatisch elegant wie einst sein Vater als Zwanzigjähriger über den Trichterrand nach oben.
    Dri spürte, wie in ihrem Inneren etwas nachgab, und schrie auf. Der Ixchel über ihr packte Taliktrum im Sprung an den Knöcheln und drehte ihn in der Luft, und gerade als Dri vollends die Kräfte verließen, kam Taliktrums Hand herab, fasste die ihre und zerrte sie am Rand vorbei.
    Auf den letzten dreißig Fuß litt Diadrelu Höllenqualen. Doch sobald sie das Schiff erreichten, waren sie in Sicherheit – das Tau war neben einem Rettungsboot festgemacht, über das eine breite Persenning gespannt war. Mühelos schlüpften sie unter das wasserdichte Tuch. Als Dri eintraf, drängten sich ihre Schützlinge bereits um eine Nachricht, die mit Holzkohle auf das Deck gekrakelt war. Ixchel-Worte, für Riesen-Augen viel zu klein:
    Tür an Leitertreppe, kein Riegel, 8 Fuß 9 Zoll steuerbord. Willkommen an Bord, Lady Diadrelu.
    Dri drehte sich um, wollte nach der geheimen Tür suchen – und brach zusammen. In ihrer Brust stach es, als hätte sie ein Messer verschluckt. Aber sie hatten es endlich geschafft. Sie hatten vier Clans in ebenso vielen Tagen an Bord geschleust. Bei den drei ersten Gruppen waren neun Ixchel ums Leben gekommen, heute gab es nur ein Opfer. Nytikyn. Er sollte ein Mädchen in Etherhorde heiraten, trug schon ihr Clanszeichen an einer Kette am Handgelenk. Dri würde ihr die Nachricht persönlich überbringen

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