Winesburg, Ohio (German Edition)
bevor ich hierherkam, eine große Summe gestohlen haben oder in einen Mord verwickelt gewesen sein. Das stimmt nachdenklich, wie? Wärst du ein richtig gewiefter Zeitungsreporter, würdest du mich besuchen. In Chicago gab es einen Doktor Cronin, den man ermordet hat. 3 Hast du davon gehört? Ein paar Männer haben ihn ermordet und in einen Koffer gesteckt. Frühmorgens haben sie den Koffer dann quer durch die Stadt befördert. Er stand auf der Ladefläche eines Lieferwagens, und sie saßen
auf den Sitzen, als ginge sie das gar nichts an. So fuhren sie durch stille Straßen, in denen alles schlief. Gerade ging die Sonne überm See auf. Komisch, wie? Allein die Vorstellung, dass sie, ebenso unbekümmert wie ich jetzt, Pfeife rauchend und plaudernd dahinfuhren. Vielleicht war ich ja einer dieser Männer. Das wäre doch eine seltsame Wendung der Ereignisse, wie?» Erneut begann Doktor Parcival mit seiner Geschichte: «Na, jedenfalls war ich da Reporter einer Zeitung, genau wie du jetzt, bin herumgerannt und habe kleine Meldungen zu Papier gebracht. Meine Mutter war arm. Sie hat für andere gewaschen. Ihr Traum war es, aus mir einen presbyterianischen Pfarrer zu machen, und mit diesem Ziel studierte ich.
Mein Vater war damals schon seit einigen Jahren geisteskrank. Er war in einer Anstalt in Dayton, Ohio. Da siehst du, jetzt ist es mir herausgerutscht! Das alles hat sich in Ohio zugetragen, hier in Ohio. Das ist ein Hinweis, solltest du je auf die Idee kommen, über mich zu recherchieren.
Ich wollte dir von meinem Bruder erzählen. Das ist ja der Zweck von all dem hier. Darauf will ich ja hinaus. Mein Bruder war Eisenbahnanstreicher und hatte einen Posten bei der ‹Big Four› 4 . Du weißt ja, die Strecke, die hier durch Ohio läuft. Er lebte mit anderen Männern in einem Güterwaggon, und los fuhren sie von Stadt zu Stadt und strichen das Eigentum der Eisenbahn – Weichen, Bahnschranken, Brücken und Bahnhöfe.
Die ‹Big Four› streicht ihre Bahnhöfe in einem hässlichen Orange. Wie ich diese Farbe hasste! Mein Bruder war immer voll davon. Am Zahltag betrank er
sich und kam dann in seinen farbverschmierten Sachen nach Hause und brachte das Geld mit. Er gab es aber nicht Mutter, sondern legte es in einem Haufen auf unseren Küchentisch.
Er lief im Haus in den Sachen herum, die mit dem hässlichen orangefarbenen Lack beschmiert waren. Ich sehe das Bild noch vor mir. Meine Mutter, die klein war und rote, traurige Augen hatte, kommt aus einem kleinen Schuppen hinterm Haus. Dort verbrachte sie ihre Zeit überm Waschzuber und schrubbte die schmutzige Wäsche anderer Leute. Sie kommt herein, steht am Tisch und reibt sich die Augen mit der Schürze, die voller Seifenlauge ist.
‹Nicht anfassen, fass das Geld nicht an›, brüllte mein Bruder, und dann nahm er sich fünf oder zehn Dollar und zog ab in die Saloons. Hatte er ausgegeben, was er mitgenommen hatte, kam er wieder und holte sich noch mehr. Meiner Mutter gab er nie Geld, sondern blieb so lange, bis er alles ausgegeben hatte, Stück für Stück. Dann ging er zurück zur Arbeit bei dem Anstreichertrupp der Eisenbahn. Nachdem er gegangen war, trafen Sachen bei uns im Haus ein, Lebensmittel und dergleichen. Manchmal waren auch ein Kleid für meine Mutter oder ein Paar Schuhe für mich dabei.
Eigenartig, wie? Meine Mutter liebte meinen Bruder viel mehr als mich, obwohl er nie ein freundliches Wort für uns beide hatte und immer nur aufbrauste und uns drohte, sollten wir es wagen, das Geld, das manchmal drei Tage auf dem Tisch lag, auch nur anzufassen.
Wir kamen ganz gut zurecht. Ich machte ein Pfarrerstudium und betete. Ich stellte mich beim Beten an wie
ein wahrer Esel. Du hättest mich mal hören sollen. Als mein Vater starb, betete ich die ganze Nacht, so wie ich es auch manchmal tat, wenn mein Bruder in der Stadt trank und die Sachen für uns kaufte. Abends nach dem Essen kniete ich mich vor dem Tisch nieder, auf dem das Geld lag, und betete stundenlang. Wenn niemand hersah, stahl ich einen Dollar oder auch zwei und steckte sie in die Tasche. Heute lache ich darüber, aber damals war es schrecklich. Ich musste immerzu daran denken. Mit meiner Arbeit bei der Zeitung verdiente ich sechs Dollar die Woche und brachte sie immer sofort nach Hause zu meiner Mutter. Die paar Dollar, die ich von dem Haufen meines Bruders stahl, gab ich dabei für mich selbst aus, für Kleinigkeiten, Süßigkeiten, Zigaretten und dergleichen.
Als mein Vater in der Anstalt in
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