Winesburg, Ohio (German Edition)
Dayton starb, fuhr ich hin. Ich lieh mir Geld bei dem Mann, für den ich arbeitete, und fuhr nachts mit dem Zug. Es regnete. In der Anstalt behandelten sie mich wie einen König.
Die Männer, die in der Anstalt arbeiteten, hatten herausgefunden, dass ich Zeitungsreporter war. Das machte ihnen Angst. Es war nämlich, während mein Vater krank war, zu Nachlässigkeiten gekommen, zu Schlampereien. Sie dachten, dass ich vielleicht in der Zeitung darüber schreibe und Ärger mache. Aber ich hatte dergleichen nie vorgehabt.
Jedenfalls ging ich in das Zimmer, in dem mein toter Vater lag, und segnete den Leichnam. Ich frage mich, wie ich auf diese Idee gekommen war. Mein Bruder, der Anstreicher, hätte vielleicht darüber gelacht. Da stand ich nun vor der Leiche und breitete die Arme
aus. Der Leiter der Anstalt und einige seiner Helfer kamen herein und standen verlegen herum. Es war sehr amüsant. Ich breitete die Arme aus und sagte: ‹Möge Frieden über diesem Kadaver schweben.› Das habe ich gesagt.»
Doktor Parcival sprang auf, brach die Geschichte ab und lief sodann in der Redaktion des «Winesburg Eagle» auf und ab, wo George Willard saß und zuhörte. Er war ungeschickt und stieß, da das Zimmer klein war, immer wieder irgendwo an. «Was bin ich nur für ein Dummkopf, so zu reden», sagte er. «Es ist nicht meine Absicht, hierherzukommen und dir meine Bekanntschaft aufzudrängen. Ich habe anderes im Sinn. Du bist Reporter, so wie ich einmal einer war, und du hast meine Aufmerksamkeit geweckt. Am Ende wirst du auch noch so ein Dummkopf. Ich möchte dich warnen und immer weiter warnen. Deshalb komme ich zu dir.»
Doktor Parcival sprach nun über George Willards Haltung gegenüber Männern. Es schien dem Jungen, dass der Mann nur ein Ziel im Blick hatte, nämlich jeden als widerwärtig erscheinen zu lassen. «Ich möchte dich mit Hass und Verachtung erfüllen, damit du ein überlegenes Wesen wirst», verkündete er. «Schau dir meinen Bruder an. Das war einer, wie? Der verabscheute nämlich jeden. Du hast ja keine Vorstellung, mit welcher Verachtung er meine Mutter und mich ansah. Und war er uns nicht überlegen? Du weißt es doch. Du hast ihn nie gesehen, und dennoch habe ich dir einen Eindruck davon gegeben. Ich habe dir ein Gefühl dafür gegeben. Er ist tot. Einmal legte er sich
betrunken auf die Schienen, und dann hat der Waggon, in dem er mit den anderen Anstreichern lebte, ihn überfahren.»
An einem Tag im August erlebte Doktor Parcival in Winesburg ein Abenteuer. Einen Monat lang hatte George Willard jeden Vormittag eine Stunde in der Praxis des Doktors verbracht. Die Besuche geschahen auf den Wunsch des Doktors hin, dem Jungen aus den Seiten eines Buchs vorzulesen, an dem er gerade schrieb. Das Buch zu schreiben war, wie Doktor Parcival erklärte, der Zweck, zu dem er nach Winesburg gekommen war.
An dem Morgen im August hatte sich, bevor der Junge kam, in der Praxis des Doktors ein Vorfall ereignet. Auf der Main Street war ein Unfall passiert. Ein Pferdegespann scheute vor einem Zug und ging durch. Ein kleines Mädchen, die Tochter eines Bauern, wurde von einem Buggy 5 geschleudert und starb.
Auf der Main Street war alles in heller Aufregung und man rief nach einem Arzt. Alle drei diensttuenden Ärzte der Stadt eilten rasch herbei, fanden das Kind aber tot vor. Einer aus der Menge lief in die Praxis Doktor Parcivals, der sich jedoch brüsk weigerte, seine Praxis zu verlassen und zu dem toten Kind zu gehen. Die sinnlose Grausamkeit seiner Weigerung war unbemerkt geblieben. Ja, der Mann, der die Treppe hinaufgegangen war, um ihn zu rufen, war davongeeilt, ohne die Weigerung noch zu hören.
Das alles wusste Doktor Parcival nicht, und als George Willard in dessen Praxis kam, schlotterte der
Mann vor Entsetzen. «Was ich getan habe, wird die Leute dieser Stadt aufbringen», erklärte er erregt. «Kenne ich die menschliche Natur etwa nicht? Weiß ich nicht, was geschehen wird? Man wird sich die Nachricht von meiner Weigerung zuraunen. Bald werden Männer in Gruppen zusammenstehen und darüber sprechen. Sie werden herkommen. Wir werden streiten, und es wird von Hängen die Rede sein. Dann werden sie wiederkommen, mit einem Strick in Händen.»
Doktor Parcival zitterte vor Angst. «Ich habe eine Vorahnung», erklärte er emphatisch. «Es kann sein, dass das, wovon ich rede, nicht heute Vormittag geschehen wird. Es könnte auf den Abend verschoben werden, aber man wird mich hängen. Jeder wird sich
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