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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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ereifern. Man wird mich an einem Laternenpfahl auf der Main Street aufhängen.»
    Doktor Parcival schritt zur Tür seiner schmutzigen kleinen Praxis und blickte furchtsam die Treppe hinab, die auf die Straße führte. Als er wiederkehrte, traten an die Stelle der Angst, die in seinen Augen gelegen hatte, allmählich Zweifel. Auf Zehenspitzen durchs Zimmer schleichend tippte er George Willard auf die Schulter. «Wenn nicht jetzt, dann irgendwann anders», flüsterte er kopfschüttelnd. «Am Ende wird man mich kreuzigen, sinnlos kreuzigen.»
    Doktor Parcival flehte George Willard nun an. «Du musst aufpassen, was ich sage», drängte er. «Sollte etwas geschehen, dann kannst du vielleicht das Buch schreiben, das ich möglicherweise nie schreiben werde. Der Gedanke ist sehr einfach, so einfach, dass du ihn,
wenn du nicht aufpasst, vergessen wirst. Er lautet folgendermaßen – dass jeder auf der Welt Christus ist und ein jeder gekreuzigt wird. Das will ich sagen. Vergiss es ja nicht. Was auch geschieht, wage nicht, es zu vergessen.»

NIEMAND WEISS
    George Willard schaute sich vorsichtig um, erhob sich von seinem Schreibtisch in der Redaktion des «Winesburg Eagle» und ging rasch zur Hintertür hinaus. Der Abend war warm und der Himmel bewölkt, und obwohl noch nicht acht Uhr, war die Gasse hinterm «Eagle» pechschwarz. Ein Pferdegespann, das man irgendwo in dem Dunkel an einen Pfahl gebunden hatte, stampfte auf den festgebackenen Boden. Vor George Willards Füßen sprang eine Katze auf und rannte in die Nacht. Der junge Mann war nervös. Den ganzen Tag hatte er seine Arbeit wie von einem Hieb betäubt verrichtet. Zitternd stand er in der Gasse, als hätte er Angst.
    Behutsam und vorsichtig schritt George Willard im Dunkeln durch die Gasse. Die Hintertüren der Winesburger Geschäfte standen offen, und unter den Ladenleuchten sah er Männer sitzen. In Myerbaums Kurzwarengeschäft stand Mrs Willy, die Frau des Saloonbesitzers, am Ladentisch, einen Korb überm Arm. Sid Green, der Verkäufer, bediente sie. Er war über den Ladentisch gebeugt und redete ernst.
    George Willard duckte sich und sprang dann durch den Lichtstrahl, der aus der Tür kam. Dann rannte er weiter durch das Dunkel. Hinter Ed Griffiths Saloon
schlief der alte Jerry Bird, der Säufer des Orts, auf dem Boden. Der Rennende stolperte über dessen ausgestreckte Beine. Er lachte stoßweise.
    George Willard hatte sich zu einem Abenteuer aufgemacht. Den ganzen Tag lang hatte er schon versucht, sich zu dem Abenteuer durchzuringen, und nun ging er es an. Seit sechs Uhr hatte er in der Redaktion des «Winesburg Eagle» gesessen und versucht nachzudenken.
    Eine Entscheidung war nicht gefallen. Er war lediglich aufgesprungen, an Will Henderson, der im Druckraum Korrektur las, vorbeigelaufen und auf die Gasse hinausgerannt.
    Weg um Weg lief George Willard, mied dabei Entgegenkommende. Wieder und wieder überquerte er die Straße. Als er eine Straßenlaterne passierte, zog er sich den Hut ins Gesicht. Er wagte nicht nachzudenken. In ihm war Furcht, aber eine neue Art Furcht. Er hatte Angst, das Abenteuer, zu dem er aufgebrochen war, würde ihm verdorben, dass er den Mut verlieren und umkehren würde.
    George Willard traf Louise Trunnion in der Küche ihres väterlichen Hauses an. Sie spülte im Schein einer Kerosinlampe Geschirr. Da stand sie hinter der Fliegentür in der kleinen, schuppenähnlichen Küche im rückwärtigen Teil des Hauses. George Willard blieb am Lattenzaun stehen und versuchte, seinen zitternden Körper in den Griff zu bekommen. Nur ein schmales Kartoffelbeet trennte ihn von seinem Abenteuer. Fünf Minuten vergingen, bis er sich sicher genug fühlte, nach ihr zu rufen. «Louise! Ach, Louise!», rief er. Der
Ruf blieb ihm im Hals stecken. Seine Stimme wurde ein heiseres Flüstern.
    Louise Trunnion kam, das Spültuch in der Hand, über das Kartoffelbeet. «Woher willst du wissen, dass ich mit dir ausgehen möchte», sagte sie schmollend. «Wie kommst du darauf?»
    George Willard antwortete nicht. Schweigend standen die beiden im Dunkeln, zwischen ihnen der Zaun. «Geh du schon mal», sagte sie. «Pa ist da drin. Ich komm nach. Warte bei Williams’ Scheune.»
    Der junge Zeitungsreporter hatte von Louise Trunnion einen Brief erhalten. Er war am Morgen in der Redaktion des «Winesburg Eagle» eingetroffen. Der Brief war kurz. «Ich bin Dein, wenn Du mich willst», stand darin. Er fand es ärgerlich, dass sie im Dunkeln da am Zaun so getan hatte,

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