Winesburg, Ohio (German Edition)
als sei nichts zwischen ihnen. «Die hat Nerven! Na, lieber Himmel, hat die Nerven!», brummelte er, während er die Straße weiterging und an einer Reihe leerer Grundstücke vorbeilief, auf denen Mais wuchs. Der Mais war schulterhoch und bis an den Gehweg heran gepflanzt worden.
Als Louise Trunnion zur Vordertür des Hauses herauskam, trug sie noch immer das Ginghamkleid 6 , in dem sie Geschirr gespült hatte. Auf ihrem Kopf saß kein Hut. Der Junge konnte sie dastehen und, den Türknauf in der Hand, mit jemandem drinnen reden sehen, zweifellos mit dem alten Jake Trunnion, ihrem Vater. Der alte Jake war halb taub, und sie schrie. Die Tür ging zu, dann war in der kleinen Seitenstraße alles dunkel und still. George Willard zitterte heftiger denn je.
Im Schatten von Williams’ Scheune standen George
und Louise und wagten nicht zu sprechen. Sie sah nicht sonderlich gut aus, und seitlich an der Nase hatte sie einen schwarzen Schmierer. George glaubte, sie müsse sich mit dem Finger an der Nase gerieben haben, nachdem sie mit Küchentöpfen hantiert hatte.
Der junge Mann lachte nervös auf. «Es ist warm», sagte er. Er wollte sie mit der Hand berühren. «Ich bin nicht besonders kühn», dachte er. Allein die Falten des beschmutzten Ginghamkleids zu berühren, befand er, wäre ein köstliches Vergnügen. Sie begann zu kritteln. «Du hältst dich wohl für was Besseres. Erzähl mir nichts, ich weiß es doch», sagte sie und rückte dabei näher an ihn heran.
Ein Wortschwall brach aus George Willard hervor. Er erinnerte sich an den Blick, der in den Augen des Mädchens gelauert hatte, wenn sie sich auf der Straße begegnet waren, und dachte an das Briefchen, das sie ihm geschrieben hatte. Zweifel verflogen. Die geflüsterten Geschichten über sie, die sich über die Stadt verbreitet hatten, gaben ihm Zuversicht. Er wurde ganz Mann, kühn und aggressiv. Im Herzen hatte er keine Sympathie für sie. «Ach, komm, das wird schon. Keiner wird etwas erfahren. Woher auch?», drängte er.
Sie liefen jetzt auf einem schmalen Ziegelweg, in dessen Ritzen hohes Unkraut wuchs. Einige Ziegel fehlten, und der Gehweg war rau und holperig. Er nahm ihre Hand, die ebenfalls rau war, und fand sie erfreulich klein. «Ich darf nicht so weit weg», sagte sie, und ihre Stimme war ruhig und unbeirrt.
Sie überquerten eine Brücke, die über einen winzigen Bach führte, und kamen an einem weiteren Grundstück
mit Mais vorbei. Die Straße endete. Auf dem Pfad entlang der Straße waren sie gezwungen, hintereinander zu gehen. Will Overtons Beerenfeld lag an der Straße, ebenso ein Stapel Bretter. «Will baut sich hier einen Schuppen, um darin die Beerenkisten zu lagern», sagte George, dann setzten sie sich auf die Bretter.
Als George Willard wieder die Main Street erreichte, war es nach zehn Uhr, und es hatte zu regnen begonnen. Dreimal ging er die ganze Main Street auf und ab. Sylvester Wests Drugstore war noch offen, er ging hinein und kaufte sich eine Zigarre. Als Shorty Crandall, der Verkäufer, ihn an die Tür begleitete, freute er sich. Fünf Minuten lang standen die beiden im Schutz der Ladenmarkise und unterhielten sich. George Willard war zufrieden. Mehr als alles andere hatte er mit einem Mann reden wollen. Er ging leise pfeifend um die Ecke in Richtung «New Willard House».
Auf dem Gehweg neben Winneys Kurzwarenhandlung, wo ein hoher Bretterzaun, beklebt mit Zirkusplakaten, stand, blieb er pfeifend stehen und verharrte vollkommen reglos in dem Dunkel, aufmerksam, als lauschte er einer Stimme, die seinen Namen rief. Dann lachte er wieder nervös. «Sie hat nichts gegen mich in der Hand. Keiner weiß etwas», murmelte er verbissen und ging weiter.
FRÖMMIGKEIT
Eine Geschichte in vier Teilen
I
Stets saßen drei, vier alte Leute vorn auf der Veranda der Bentley-Farm oder werkelten im Garten. Drei der alten Leute waren Frauen und Schwestern von Jesse. Sie waren farblos und redeten mit leiser Stimme. Dann gab es da noch einen schweigsamen alten Mann mit dünnem weißem Haar, Jesses Onkel.
Das Farmhaus war aus Holz erbaut, über einem Gebälk aus Baumstämmen lag eine Deckschicht aus Brettern. In Wahrheit war es kein einzelnes Haus, sondern eine Ansammlung von Häusern, die ziemlich willkürlich miteinander verbunden waren. Innen steckte das Anwesen voller Überraschungen. Über Stufen gelangte man vom Wohnzimmer ins Esszimmer, immer waren auf dem Weg von einem Zimmer ins andere Stufen hinauf- oder hinabzusteigen. Zu Essenszeiten
Weitere Kostenlose Bücher