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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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und lassen uns auch nicht mehr von den Leuten anstarren und belauschen. Hauen Sie ab!»
    Der Handelsvertreter ging. Er raffte seine Kragenverschlussmuster vom Ladentisch in eine schwarze Ledertasche und rannte davon. Er war ein kleiner Mann und sehr krummbeinig, und er rannte komisch. Die schwarze Tasche verfing sich an der Tür, sodass er stolperte und hinfiel. «Verrückt ist der, das ist er – verrückt!», stammelte er, während er sich vom Gehsteig aufrappelte und davonhastete.
    Im Geschäft starrten Elmer Cowley und sein Vater einander an. Da der unmittelbare Gegenstand seines Zorns nun geflohen war, wurde der jüngere Mann verlegen. «Also, das war mein Ernst. Ich finde, wir waren lange genug wunderlich», verkündete er, ging zu der Vitrine und legte den Revolver wieder hinein. Dann setzte er sich auf ein Fass, zog den Schuh an, den er in der Hand gehalten hatte, und schnürte ihn zu. Er wartete auf ein verständnisvolles Wort seines Vaters, doch als Ebenezer sprach, weckten seine Worte nur erneut den Zorn des Sohnes, und der junge Mann lief ohne Antwort aus dem Geschäft. Der Kaufmann kratzte sich mit seinen langen, schmutzigen Fingern den grauen Bart und sah seinem Sohn mit dem gleichen flackernden, unsicheren Blick nach, mit dem er den Handelsvertreter betrachtet hatte. «Da
will ich doch gestärkt sein», sagte er leise. «Na, da will ich doch gewaschen, gebügelt und gestärkt sein!» Elmer Cowley verließ Winesburg auf einer Landstraße, die parallel zum Bahngleis lief. Er wusste nicht, wohin er ging oder was er tun sollte. Im Schutz einer tiefen Senke, wo die Straße, nachdem sie scharf nach rechts geschwenkt war, unter dem Gleis hindurchführte, blieb er stehen, und die Leidenschaft, die der Grund seines Ausbruchs im Geschäft gewesen war, fand erneut Ausdruck. «Ich werde nicht mehr wunderlich sein – keiner, den man beobachtet und belauscht», verkündete er laut. «Ich werde wie andere Leute sein. Das werde ich George Willard zeigen. Er wird es merken. Dem zeig ich’s!»
    Der verzweifelte junge Mann stand mitten auf der Straße und warf einen wütenden Blick zurück auf die Stadt. Er kannte den Reporter George Willard nicht und verband auch nichts mit dem großen Jungen, der in der Stadt herumlief und Nachrichten sammelte. Nur durch seine Anwesenheit in der Redaktion und in der Druckerei des «Winesburg Eagle» hatte der Reporter in den Gedanken des jungen Kaufmanns allmählich für etwas gestanden. Er vermutete, der Junge, der immer wieder am Laden von Cowley & Son vorbeikam und mit Leuten auf der Straße sprach, denke an ihn und lache vielleicht auch über ihn. George Willard, so glaubte er, gehöre zur Stadt, verkörpere die Stadt, repräsentiere mit seiner Person den Geist der Stadt. Elmer Cowley hätte niemals geglaubt, dass auch George Willard seine unglücklichen Tage hatte, dass auch er von vagen Sehnsüchten und geheimen, unnennbaren
Begierden heimgesucht wurde. Repräsentierte er denn nicht die öffentliche Meinung, und hatte die öffentliche Meinung von Winesburg die Cowleys nicht zur Wunderlichkeit verurteilt? Ging er nicht pfeifend und lachend durch die Main Street? Könnte man nicht, indem man seine Person schlug – das, was da lächelte und seiner eigenen Wege ging –, auch den größeren Feind schlagen, das Urteil Winesburgs?
    Elmer Cowley war ungewöhnlich groß, und seine Arme waren lang und kräftig. Seine Haare, seine Augenbrauen und der flaumige Bart, der auf seinem Kinn wuchs, waren fahl, fast schon weiß. Die Zähne ragten ihm zwischen den Lippen hervor, und seine Augen waren blau wie das farblose Blau der aggies genannten Murmeln, die die Jungen von Winesburg in der Tasche hatten. Elmer hatte ein Jahr in Winesburg gelebt und keine Freundschaften geschlossen. Er meinte, er sei einer, der dazu verurteilt war, ohne Freunde durchs Leben zu gehen, und diese Vorstellung fand er furchtbar.
    Mürrisch stapfte der große junge Mann, die Hände in den Hosentaschen, die Straße entlang. Der Tag war kalt, es ging ein rauer Wind, nun aber kam die Sonne hervor, und die Straße wurde weich und matschig. Die Kammspitzen aus gefrorenem Matsch, die die Straße formten, begannen zu schmelzen, und der Matsch klebte an Elmers Schuhen. Seine Füße wurden kalt. Als er mehrere Meilen gelaufen war, bog er von der Straße ab, überquerte ein Feld und ging in einen Wald. In dem Wald sammelte er Zweige und errichtete daraus ein Feuer, an das er sich dann setzte, um sich aufzuwärmen, elend an

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