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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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sich. Er wusste, dass um Mitternacht ein Güterzug durch Winesburg kam und weiter nach Cleveland fuhr, wo er im Morgengrauen eintraf. Auf dem würde er heimlich mitfahren, und wenn er in Cleveland wäre, würde er sich dort in der Menge verlieren. Er würde sich in einem Geschäft Arbeit beschaffen und sich mit den anderen Arbeitern anfreunden. Nach und nach würde er werden wie die anderen Männer und wäre nicht mehr zu unterscheiden. Dann würde er reden und lachen können. Er würde nicht länger wunderlich sein
und würde Freunde finden. Das Leben würde für ihn Wärme und einen Sinn haben so wie für andere auch.
    Der große linkische junge Mann schritt durch die Straßen und lachte über sich, weil er zornig gewesen war und sich halb vor George Willard gefürchtet hatte. Er beschloss, bevor er die Stadt verließ, doch noch mit dem jungen Reporter zu sprechen, ihm von Dingen zu erzählen, ihn vielleicht herauszufordern, durch ihn ganz Winesburg herauszufordern.
    Glühend von neuem Selbstvertrauen ging Elmer zum Büro des «New Willard House» und hämmerte an die Tür. Auf einem Feldbett im Büro lag ein schlafäugiger Junge. Er erhielt keinen Lohn, sondern wurde am Hoteltisch gefüttert und trug voller Stolz den Titel «Nachtportier». Vor dem Jungen war Elmer kühn, hartnäckig. «Weck ihn auf», befahl er. «Sag ihm, er soll gefälligst zum Güterbahnhof kommen. Ich muss ihn sehen, und ich fahre mit dem Nachtzug weg. Sag ihm, er soll sich ankleiden und herunterkommen. Ich hab nicht viel Zeit.»
    Die Arbeit am Mitternachtszug war für Winesburg beendet, und die Eisenbahner koppelten Waggons aneinander, schwenkten Laternen und trafen Vorkehrungen, ihre Fahrt nach Osten fortzuführen. George Willard rannte augenreibend, wieder mit dem neuen Mantel, zum Bahnhof, denn er brannte vor Neugier. «Also, hier bin ich. Was willst du? Du möchtest mir etwas erzählen, ja?», sagte er.
    Elmer versuchte sich an einer Erklärung. Er befeuchtete die Lippen mit der Zunge und blickte auf den Zug, der schon ächzend anfuhr. «Hm, weißt du», begann
er, und dann verlor er die Kontrolle über seine Zunge. «Da will ich doch gewaschen und gebügelt sein. Da will ich gewaschen, gebügelt und gestärkt sein», murmelte er nur halb zusammenhängend.
    Elmer Cowley tanzte voller Wut im Dunkel neben dem ächzenden Zug auf dem Bahnsteig. Lichter sprangen in die Luft und hüpften vor seinen Augen auf und ab. Er zog die zwei Zehn-Dollar-Scheine aus der Tasche und klatschte sie George Willard in die Hand. «Nimm das», rief er. «Ich will sie nicht. Gib sie Vater. Ich habe sie gestohlen.» Zornig knurrend wandte er sich ab, und seine langen Arme droschen die Luft. Wie einer, der sich aus Händen befreien will, die ihn festhalten, schlug er los, traf George Willard Schlag um Schlag auf die Brust, den Hals, den Mund. Der junge Reporter stürzte halb bewusstlos, gelähmt von der schrecklichen Wucht der Schläge, vornüber auf den Bahnsteig. Elmer sprang auf den vorbeifahrenden Zug auf und lief über die Waggondächer, sprang schließlich auf einen Flachwagen, legte sich auf den Bauch und schaute zurück, versuchte, in dem Dunkel den gestürzten Mann auszumachen. Stolz wallte in ihm auf. «Dem hab ich’s gezeigt», rief er. «Ja, dem hab ich’s gezeigt. Ich bin gar nicht so wunderlich. Dem hab ich wohl gezeigt, dass ich nicht so wunderlich bin.»

DIE UNGESAGTE LÜGE
    Ray Pearson und Hal Winters waren Knechte auf einer Farm drei Meilen nördlich von Winesburg. Samstagnachmittags kamen sie immer in die Stadt und streiften mit anderen Burschen vom Land durch die Straßen.
    Ray war ein stiller, recht nervöser Mann von vielleicht fünfzig Jahren mit braunem Bart und Schultern, die von zu viel und zu harter Arbeit krumm geworden waren. Sein Wesen unterschied sich von dem Hal Winters’ wie nur irgend möglich.
    Ray war ein ganz und gar ernster Mann, er hatte eine kleine Frau mit scharfen Zügen und einer ebenso scharfen Stimme. Die beiden lebten mit einem halben Dutzend dünnbeiniger Kinder in einem baufälligen Holzhaus an einem Bach am Rande der Wills-Farm, wo Ray in Dienst stand.
    Hal Winters, sein Kollege, war ein junger Bursche. Er gehörte nicht zu Ned Winters’ Familie, die in Winesburg großen Ansehen genoss, sondern war einer der drei Söhne des alten Mannes namens Windpeter Winters, der bei Unionville, sechs Meilen entfernt, eine Sägemühle hatte und in Winesburg bei allen als unverbesserlicher alter Taugenichts galt.
    Leute aus

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