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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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Leib und Geist.
    Zwei Stunden lang saß er auf dem Stamm am Feuer, dann erhob er sich und kroch vorsichtig durch dichtes Unterholz, ging zu einem Zaun und blickte über die Felder zu einem kleinen Farmhaus, das von niedrigen Schuppen umstanden war. Ein Lächeln trat auf seine Lippen, und er winkte mit seinen langen Armen einem Mann zu, der auf einem der Felder Mais schälte.
    In seiner Stunde des Elends war der junge Mann zu der Farm zurückgekehrt, auf der er seine Jugendzeit verbracht hatte und wo es noch einen Menschen gab, dem er sich erklären zu können meinte. Der Mann auf der Farm war ein schwachsinniger Alter namens Mook. Er war einst bei Ebenezer Cowley angestellt gewesen und war, als die Farm verkauft wurde, dort geblieben. Der Alte wohnte in einem der ungestrichenen Schuppen hinterm Farmhaus und werkelte den ganzen Tag auf den Feldern herum.
    Mook der Schwachsinnige lebte glücklich. Mit kindlicher Überzeugung glaubte er an die Intelligenz der Tiere, die bei ihm in den Schuppen lebten, und wenn er einsam war, führte er lange Gespräche mit den Kühen, den Schweinen und sogar mit den Hühnern, die auf dem Hof umherliefen. Er war es auch, der seinem damaligen Arbeitgeber den Ausdruck vom «Gewaschen»-Sein in den Mund gelegt hatte. War er von etwas erregt oder überrascht, lächelte er vage und murmelte: «Na, da will ich doch gewaschen und gebügelt sein. Also, da will ich doch gewaschen, gebügelt und gestärkt sein.»
    Als der schwachsinnige Alte das Schälen sein ließ und zu Elmer Cowley in den Wald kam, war er von dem plötzlichen Auftauchen des jungen Mannes weder
überrascht noch interessierte es ihn sonderlich. Auch waren seine Füße kalt, und er setzte sich auf den Stamm am Feuer, dankbar für die Wärme und offenbar gleichgültig dem gegenüber, was Elmer zu sagen hatte.
    Elmer redete ernst und mit großer Ungezwungenheit, dabei ging er auf und ab und schwenkte die Arme. «Du verstehst nicht, was mit mir los ist, also kümmert es dich natürlich auch nicht», verkündete er. «Bei mir ist das anders. Schau, wie es bei mir immer war. Vater ist wunderlich, und auch Mutter war wunderlich. Selbst die Kleider, die Mutter trug, waren nicht wie die der anderen, und sieh dir nur den Gehrock an, in dem Vater in der Stadt umhergeht und sich dabei auch noch für fein hält. Warum kauft er sich keinen neuen? Der würde nicht viel kosten. Ich sage dir, warum. Vater weiß es nicht, und als Mutter noch lebte, wusste sie’s auch nicht. Mabel ist anders. Sie weiß es, aber sie sagt nichts. Aber ich werde etwas sagen. Ich lasse mich nicht länger anstarren. Sieh doch mal, Mook, Vater weiß nicht, dass sein Laden in der Stadt bloß ein wunderlicher Mischmasch ist, dass er das Zeug, das er kauft, nie verkaufen wird. Davon weiß er nichts. Manchmal sorgt er sich ein bisschen, dass keine Kundschaft kommt, und dann kauft er etwas anderes ein. Abends sitzt er dann oben am Feuer und sagt, die Kundschaft wird schon noch kommen. Er sorgt sich nicht. Er ist wunderlich. Er weiß nicht genug, um sich zu sorgen.»
    Der erregte junge Mann wurde noch erregter. «Er weiß es nicht, aber ich», schrie er und blieb stehen, um in das dumpfe, teilnahmslose Gesicht des Schwachsinnigen
zu schauen. «Ich weiß es nur zu gut. Ich halte es nicht aus. Als wir noch hier draußen lebten, war es anders. Da habe ich gearbeitet, und nachts bin ich ins Bett gegangen und habe geschlafen. Da habe ich nicht immerzu Leute gesehen und nachgedacht wie jetzt. In der Stadt gehe ich abends zum Postamt oder zum Güterbahnhof, um den Zug einfahren zu sehen, und niemand sagt etwas zu mir. Alle stehen nur da und lachen, und sie reden, aber zu mir sagen sie nichts. Dann fühle ich mich so wunderlich, dass auch ich nicht sprechen kann. Ich gehe weg. Ich sage nichts. Ich kann’s nicht.»
    Die Raserei des jungen Mannes war nicht mehr zu bändigen. «Das halte ich nicht aus!», brüllte er, den Blick auf die nackten Äste der Bäume gerichtet. «Dazu bin ich nicht gemacht.»
    Aufgebracht über das trübsinnige Gesicht des Alten auf dem Stamm am Feuer drehte sich Elmer um und starrte ihn an, so wie er auf der Straße nach Winesburg zurückgestarrt hatte. «Geh wieder an die Arbeit!», brüllte er. «Was nützt es mir, mit dir zu reden?» Ihm kam ein Gedanke, und seine Stimme senkte sich. «Ich bin auch ein Feigling, wie?», murmelte er. «Weißt du, warum ich zu Fuß bis hierher gekommen bin? Ich musste es jemandem sagen, und du warst der Einzige, dem ich

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