Winslow, Don
hängen an seinem Hals
herab. Keller kann nur hoffen, dass sie ihn vorher getötet haben, aber er weiß es besser.
Die untere Hälfte seines Hinterkopfs ist weggesprengt. Sie haben ihm in
den Mund geschossen. Verräter kriegen die Kugel in den Hinterkopf, Zuträger
kriegen sie in den Mund.
Sie hielten ihn für den Zuträger.
So wie es geplant war, sagt sich Keller.
Aber das hier hätte er sich nie träumen lassen. Nie hätte er geglaubt,
dass sie so etwas tun würden.
»Es muss doch hier Hauspersonal gegeben haben«, sagt er. »Angestellte.«
Die Polizei hat die Unterkünfte schon durchsucht.
»Alle weg«, sagt einer.
Verschwunden. Haben sich in Luft aufgelöst.
Er zwingt sich, die Leichen noch einmal in Augenschein zu nehmen.
Ich bin schuld, denkt Keller.
Das haben diese Leute mir zu verdanken.
Es tut mir leid, denkt er, es tut mir irrsinnig leid. Er beugt sich über
die tote Mutter mit dem Kind und macht das Zeichen des Kreuzes. »In nomine
Patris et Filii et Spiritus Sancti.«
»El poder del perro«, hört er einen
mexikanischen Polizisten flüstern.
Das ist das Werk des Bluthunds.
ERSTER TEIL
Erbsünden
1 Die Männer von Sinaloa
Siehst du die furchtbar öde Heide
dort,
Die Wohnung der Verzweiflung, ohne
Licht,
Bis auf den Schimmer dieser fahlen
Flammen,
Die blass und schrecklich
flimmern?
John Milton, Das verlorene
Paradies
Distrikt Badiraguato Provinz
Sinaloa Mexiko
1975
Der Mohn brennt.
Rote Blüten, rote Flammen.
Nur in der Hölle, denkt Keller, gibt es flammende Blüten.
Er blickt in das brennende Tal wie in eine dampfende Suppenschüssel - was
sich dort zwischen den Rauchschleiern abspielt, ist eine Höllenszene.
Hieronymus Bosch malt den Drogenkrieg.
Campesinos - mexikanische
Bauern - fliehen vor dem Flammenmeer, beladen mit den Habseligkeiten, die sie
retten konnten, bevor die Soldaten kamen und ihr Dorf anzündeten. Ihre Kinder
vor sich her schiebend, schleppen sie Säcke mit Essensvorräten, Decken und
Kleidern und ihren kostbarsten Familienandenken. Mit ihren weißen Hemden und
ihren Strohhüten sehen sie aus wie Gespenster, wenn sie durch die Rauchschwaden
ziehen.
Nur etwas andere Menschen, denkt Keller, und das könnte Vietnam sein.
Aber was hier abläuft, ist nicht Operation Phoenix, sondern Operation
Condor, er hockt hier nicht als CIA-Mann im Bambusdickicht an der Grenze zu
Nordvietnam, sondern als Drogenfahnder in einem Gebirgstal der Provinz
Sinaloa.
Und was hier geerntet wurde, war nicht Reis, sondern Opium.
Keller hört das dumpfe wopp-wopp-wopp von Hubschrauberrotoren und blickt auf. Ein Geräusch, das bei
Vietnam-Veteranen Erinnerungen weckt. Erinnerungen woran?, fragt er sich. Manche
Erinnerungen sollten besser begraben bleiben.
Hubschrauber und Flugzeuge kreisen wie Geier über dem Tal. Die Flugzeuge
sprühen das Pflanzengift, die Hubschrauber bieten ihnen Feuerschutz, denn
einige gomeros - so heißen die Opiumbauern - verteidigen ihren Besitz. Mit einem gut gezielten
Feuerstoß aus der Kalaschnikow kann man einen Hubschrauber ohne weiteres vom
Himmel holen. Das weiß Keller nur zu gut. Wird der Heckrotor getroffen, trudelt
das Ding zu Boden wie ein Spielzeugflieger auf einer Kindergeburtstagsparty.
Und trifft man den Piloten, dann prost Mahlzeit ... Bis jetzt hatten sie aber
Glück. Entweder sind die Gomeros schlechte Schützen, oder sie haben keine Erfahrung
mit Hubschraubern.
Formell handelt es sich um mexikanisches Fluggerät - Operation Condor ist
ein Gemeinschaftsunternehmen des Neunten mexikanischen Armeekorps und der
Provinz Sinaloa -, aber die Flugzeuge werden von der
US-Drogenbekämpfungsbehörde DEA finanziert, und die Piloten rekrutieren sich
zumeist aus ehemaligen CIA-Angehörigen der alten Vietnamtruppe. Wenn das kein
Witz ist, denkt Keller - die Jungs von Air America, die früher Heroin für
thailändische Warlords geflogen haben, rücken nun dem mexikanischen Opium mit
Entlaubungsgiften zu Leibe.
Die DEA wollte Agent Orange einsetzen, aber dagegen hatten sich die Mexikaner
gesträubt. Also kam das neue Mittel 2,4 -D zum Einsatz, mit dem die Mexikaner vor allem deshalb einverstanden
waren, weil die Gomeros dieses Zeug sowieso als Unkrautvertilgungsmittel benutzen.
Es gibt also genug davon.
Klar, denkt Keller, die Mexikaner entscheiden, was hier passiert. Wir
Amerikaner sind nur die »Berater«. Wie in Vietnam.
Nur die Basecaps haben sich geändert.
Der amerikanische Drogenkrieg hat eine neue Front in Mexiko
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