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Winter

Winter

Titel: Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Marsden
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hatten gerade Mary Poppins gesehen, also nahmen wir uns jeder einen Regenschirm, hielten uns an den Händen und hoben ab.«
Er stand jetzt unmittelbar neben mir und wartete, dass er an mir vorbei und aus dem Bad könnte.
»Habt ihr euch weh getan? Oder ist das eine blöde Frage?«
Er hielt seinen linken Arm vor mein Gesicht. An der Innenseite, von seinem Handgelenk bis fast zur Schulter, verlief eine lange weiße Narbe.
»Mann, was für eine Narbe.«
»Möchtest du sie nicht wieder gut küssen?« Er brachte seinen Arm noch näher heran und beugte sich zu mir her, als sollte ich in Wirklichkeit seinen Mund wieder heil küssen.
Einen Moment lang zögerte ich. Die Versuchung war groß. Und wie. Dann schüttelte ich langsam den Kopf.
»Erst muss ich noch ein paar Dinge klären.«
Ich floh nach draußen, rasch, aber würdevoll.
Das war der Grund, warum ich meinte, an Matthew etwas finden zu müssen, das mir nicht gefiel. Denn sonst würde ich womöglich etwas wirklich Dummes tun, zum Beispiel mich in ihn verlieben.
19
    Und so kam der Zeitpunkt, als ich mir eingestehen musste, dass mir als letzte Hoffnung nur noch meine Großtante Rita auf Bannockburn blieb. Großtante Rita und ihre Haushälterin Mrs Stone. Ich hatte diesen Moment möglichst lange hinausgeschoben, denn allein der Gedanke an eine Begegnung mit ihr bereitete mir solches Muffensausen, dass ich mich sogar fragte, ob da nicht noch etwas aus der Vergangenheit in meinem Hinterkopf lauerte. Eine schlimme Erinnerung, irgendein schreckliches Erlebnis aus meiner Kindheit, das wie ein schlafendes Ungeheuer unter der Oberfläche kauerte.
    Jess bot an mich zu begleiten, doch ich lehnte ab. Ich legte die Hand aufs Herz, während sie mich mit Kissen bewarf, und sagte: »Gewisse Dinge muss ein Mädchen allein tun, bevor es ein richtiger Mann ist.«
    Daraufhin flogen noch mehr Kissen durch die Luft. An dem Tag, an dem ich an der Musikhochschule vorsingen sollte, beschloss ich anschließend nach Bannockburn zu fahren. Wenn es schon ein Höllentag werden sollte, dann gleich gründlich. Das Vorsingen machte mich völlig fertig, denn seit meiner letzten Stunde bei Mrs Scanelli waren über zwei Monate vergangen. Um nicht ganz unvorbereitet zu sein, hatte ich ein paar Stunden bei einem sympathischen alten Herrn in Christie genommen, der ein paar Mal mit Joan Sutherland aufgetreten war. Er hieß Gregory O’Mara, war unglaublich witzig und der offenste Schwule, dem ich je begegnet bin. Er verbrachte mehr Zeit damit, mir von seinen diversen Freunden zu erzählen als mit mir zu singen, aber er war gut und ich dachte, wenn sie mich an der Hochschule nicht aufnahmen, würde ich vielleicht bei ihm regelmäßig Unterricht nehmen.
Das Vorsingen war für zehn Uhr Vormittag angesetzt, eine für jede Stimme schlechte Uhrzeit und ganz besonders für meine. Ich dachte, das müssten die an der Schule doch wissen, und verstand nicht, wie sie mir einen so zeitigen Termin geben konnten, aber vielleicht wurde das ja auch berücksichtigt. Als Lied meiner Wahl sang ich »Unforgettable« und als Pflichtstück »Bist du bei mir« von Bach. Dann folgten noch die üblichen Tonleitern und solches Zeug. Im Mittelteil des Lieds von Bach passierte mir ein kleiner Patzer und eine der Tonleitern vermasselte ich ganz, aber ansonsten lief es ganz gut.
Die beiden Lehrer machten auf »netter Bulle, böser Bulle«. Der eine war freundlich und lächelte in einem fort, während die andere mit einem mürrischen Gesicht dasaß, als dächte sie, es gäbe schon genug Studenten an der Schule und ich bliebe besser in Christie, bevor ich den Ruf der Schule vollends ruinierte und sie zum Gespött der gesamten Musikwelt machte.
Ich war froh, als ich wieder draußen und an der frischen Luft war. Jess hatte Unterricht, also fuhr ich allein mit dem Zug nach Christie zurück. Während der Fahrt verdrängte ich ganz bewusst jeden Gedanken an Großtante Rita, denn erst einmal musste ich mich von dem Vorsingen erholen.
Bei der Vorstellung, noch einmal die schrecklich lange Einfahrt hinaufgehen zu müssen, stiegen lauter grausige und beängstigende Gedanken in mir hoch. Also sagte ich mir: Es zwingt dich keiner, du kannst ebenso gut direkt nach Hause fahren.
Wenn ich mir das nur oft genug vorsagte, konnte ich die Entscheidung aufschieben, bis ich vor der Einfahrt von Bannockburn stand.
Ich war in einer verschwenderischen Stimmung und außerdem zu müde, um auf den Bus zu warten, also nahm ich mir am Bahnhof ein Taxi. In ganz

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