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Winter

Winter

Titel: Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Marsden
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Mutter
erschossen – war das jetzt ihre Rache? Indem sie meine Hand
ein paar Stunden lang brennen ließ?
Und auf einmal musste ich lachen. Die Leute hatten mir vom
Humor meiner Mutter erzählt. Na und? So leicht gab ich mich
nicht geschlagen. Ohne weiter auf das Brennen meiner Finger
zu achten, machte ich mich daran, das Unkraut von den
Gräbern zu entfernen.
Irgendwie ist es Matthew Kennedy, dem Wicht, dann doch gelungen, dass ich ihm beim Striegeln der Pferde half. Wie es dazu kam, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls waren wir in den Ställen, jeder in einer Box, wo wir den Pferden eine gründliche Pflege verabreichten und uns, ohne uns sehen zu können,
durch die Bretterwand hindurch unterhielten.
Ich striegelte ein großes schwarzes Fohlen namens Derek,
bürstete seine Flanken mit langen festen Strichen und konnte
sehen, wie die Muskeln unter den gleichmäßigen Bewegungen
der Bürste zuckten. Inzwischen mochte ich Pferde immer
mehr. Ich mochte es, wie sich ihr Fell anfühlte: nicht weich
oder wollig, auch nicht glatt oder rau, sondern fließend und
bebend vor Kraft.
Die Arbeit war aber ziemlich anstrengend. Unter meinen
Achseln hatten sich große Schweißflecken gebildet und ich
musste mich immer wieder aufrichten und mir die Haare aus
dem Gesicht streichen.
»Worüber hat sie denn gesprochen?«, wollte Matthew
wissen.
»Die Geschichte unserer Familie. Ich glaube, sie will mir
alles erzählen, bevor sie stirbt. Damit die Geschichten nicht
verloren gehen, denke ich mal.«
Die Rede war von meinem ersten Besuch zum Tee bei
Großtante Rita am Tag davor.
»Sie hat einen ziemlichen Ruf«, sagte Matthew.
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Dad meint, sie sieht dir ähnlich.«
»Was?« Ich war so verblüfft, dass ich die Bürste fallen ließ.
»Na, besten Dank. Der Altersunterschied beträgt ja auch nur
fast siebzig Jahre.«
Ich bückte mich, um die Bürste aufzuheben, und sah, wie sein
lachendes Gesicht um die Wand der Box auftauchte. »Du bist jämmerlich, Matthew Kennedy. Du willst, dass ich
gratis für dich im Stall ackere, und dann beleidigst du mich.« Mir fiel nichts Klügeres ein. Er hatte mich völlig aus der
Bahn geworfen. Warum, weiß ich nicht, denn mit dem
Vergleich mit Tante Rita hatte es nichts zu tun. Höchstens
damit, dass ich durch die Arbeit in Fahrt gekommen und
erhitzt war und immer noch nicht wusste, welche Art von
Beziehung Matthew und ich hatten.
Inzwischen kniete ich auf dem Boden und suchte nach der
Bürste. Matthew ging um das Pferd herum und hob die Bürste
auf. Sie war weiter weg gefallen, als ich gedacht hatte. Er blieb
in der Hocke und reichte mir die Bürste zwischen den Beinen
des großen Fohlens hindurch. Doch als ich sie nehmen wollte,
ließ er meine Hand nicht los.
Wir hielten uns eine ganze Weile an den Händen und sahen
uns dabei in die Augen. Wir waren beide sehr ernst. Für Witze
schien das irgendwie nicht der richtige Moment.
Nach einer Zeit sagte ich leise: »Eine Menge Pferde hier, die
gestriegelt gehören.«
»Stimmt.«
Aber er ließ meine Hand nicht los. Derek, das Fohlen, warf
den Kopf herum und bewegte unbehaglich seine Beine. Die
Situation war einigermaßen komisch, wie wir da beide unter
dem großen Pferd hockten. Eigentlich hätte ich nervös sein
sollen, war ich aber nicht. Wir rutschten im Stroh noch näher
aneinander heran. Als seine Lippen meine berührten, schloss
ich die Augen. Es war mein erster Kuss und okay, ich hatte ihn mir anders vorgestellt, aber das war völlig egal, denn ich hatte
das Drehbuch meines Lebens nie gelesen.
Zuerst fühlten sich Matthews Lippen trocken an, doch dann
wurden sie immer feuchter, und je feuchter sie wurden, desto
angenehmer fühlten sie sich an.
Der Kuss dauerte lange. Am Ende wurde Derek doch zu
unruhig und wir mussten da weg. Vielleicht war er ja
eifersüchtig. Danach saßen wir draußen im Sand, lehnten mit
dem Rücken an der Stalltür, hielten uns an den Händen und
küssten uns und wechselten kaum ein Wort. Die Pferde waren
sicher noch nie so vernachlässigt worden.
An meinem ersten Abend in Warriewood hatte ich Ralph
geholfen, mein Bett in meinem himmelblauen Kinderzimmer
aufzustellen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich je imstande wäre,
in das Schlafzimmer zu übersiedeln, das vor so vielen Jahren
meinen Eltern gehört hatte. Doch mit der Zeit, als die
Anstreicher und Fußbodenpolierer und Elektriker und
Möbelpacker und Fliesenleger und all die anderen Handwerker
kamen und gingen, überlegte ich es mir anders. Eines

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