Winter
Stimme. Ich folgte ihm in ein großes Zimmer, in dem eines dieser Gasfeuer brannte, bei denen man drei Mal hinschauen muss um sich zu überzeugen, dass die Holzblöcke künstlich sind. An den Wänden hingen so viele Familienfotos, dass von der Ziegelmauer dahinter kaum noch was zu sehen war.
Dr Couples saß an einem Schreibtisch und sah mich mit diesem typischen Arztblick an. Obwohl er im Ruhestand war, schien er automatisch auf Arztmodus geschaltet zu haben. Er setzte sogar diesen interessierten und besorgten, Nun-wiekann-ich-Ihnen-helfen-Gesichtsausdruck auf.
»Nun, Winter, wie kann ich dir helfen?«, fragte er prompt und es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre in Gelächter ausgebrochen.
»Ich muss sagen«, fügte er hinzu, »ich finde es schön, dass du wieder hier bist. Das letzte Mal sah ich dich unter schrecklichen Umständen und du tatst mir furchtbar Leid.«
»Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen«, fing ich an. »Über den Tod meiner Mutter. Ich erfuhr erst nach meiner Rückkehr nach Warriewood, dass sie bei einem Schießunfall ums Leben gekommen ist. Und irgendwie lässt mir das keine Ruhe. Irgendwas stimmt da nicht. Deshalb dachte ich, dass Sie vielleicht mehr darüber wissen als die anderen.«
»Was soll denn dabei nicht stimmen?«
»Na ja, die ganze Geschichte. Sie ist einfach zu blöd um wahr zu sein. Wie kann jemand mit ihrer Erfahrung, ihrem Wissen einen solchen Unfall haben?«
»Das kommt andauernd vor«, erwiderte er mit einem müden, unscheinbaren Lächeln.
»Mag sein. Aber es passt einfach nicht zu dem Bild, das ich von ihr habe. Ich kann mir vorstellen, dass Leute, die versehentlich angeschossen werden, entweder beso-, ich meine betrunken sind oder dumm oder keine Erfahrung im Umgang mit Waffen haben.«
»Nicht immer.« Dr Couples rieb sich mit dem Handrücken die Augen. Auf einmal sah er alt aus.
»War sie…« Wieder spürte ich diesen schon vertrauten Schauer, als würde mein ganzer Körper nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich bleich werden. »War sie nach dem Tod meines Vaters sehr niedergeschlagen?«
»O ja. Die beiden hatten eine bemerkenswerte Beziehung. Müsste ich sie beschreiben, fiele mir keine andere Bezeichnung ein als wahre Liebe. Im echten Leben sind Beziehungen dieser Art eher selten, weißt du. Man findet sie üblicherweise nur im Film oder im Fernsehen. Aber sie waren einander wirklich und ehrlich zugetan. Je länger sie allein war, desto weniger konnte sie den Verlust von Phillip verkraften.«
»Wie deprimiert war sie?«
»Das kommt darauf an, wie du den Begriff ›deprimiert‹ verwendest. Laien gebrauchen ihn mitunter anders als ein Mediziner. Nach meiner Einschätzung litt Phyllis unter keiner klinischen Depression, aber sie war in tiefer Trauer und ihr Kummer war wirklich groß. Das ist ganz natürlich, nur gibt es dafür keine kurzfristige Heilung.«
»Denken Sie, sie war so deprimiert, dass sie… dass sie vielleicht aufgegeben hat?«
»O nein. Nein. Das wäre nicht ihre Art gewesen. Überhaupt nicht. Sicher nicht.«
Ich beschloss vorläufig nichts darauf zu erwidern. Es war erst ein paar Tage her, als ich beim Brombeerenjäten über irgendwelches belangloses Zeug nachdachte und auf einmal diesen Einfall hatte, dass es manchmal genügt, zu schweigen, um andere zum Reden zu bringen. Ich meine, wenn man eine Frage stellt, erhält man eine Antwort. Wenn man aber anschließend nichts mehr sagt, fügen die anderen fast immer noch etwas hinzu. Ich glaube, es war eine Radiosendung, die mich darauf brachte. Bei der Arbeit mit den Brombeeren hatte ich oft das Radio eingeschaltet, und wenn ich mich richtig erinnere, war es ein Interview mit Triple J, bei dem der Reporter genau das tat.
Jetzt dachte ich, mal sehen, ob ich das auch kann.
Und tatsächlich, nach einer Minute redete Dr Couples weiter. »Es war eine schreckliche Tragödie, ich meine, so bald nach dem Tod deines Vaters. Einfach schrecklich. Alle hier waren wie vor den Kopf geschlagen. Aber ich muss gestehen, ich habe mich auch gefragt, ob sie durch den Tod deines Vaters weniger aufmerksam geworden war. Es ist durchaus möglich, dass sie sich weniger konzentrierte als sonst.«
»Aber hätte es nicht auch etwas anderes sein können?« Ich beugte mich etwas vor und sah ihn gespannt an. »Meinen Sie, dass sie deprimiert genug war, um… um das zu tun?«
Ich rechnete damit, dass er mich schockiert ansehen würde, aber vielleicht kann man Ärzte gar nicht schockieren.
»Ich war vor dem Rettungswagen dort, weißt
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