Winter
Treppe herunter, fuchtelte mit ihrem Gehstock in der Luft und beschimpfte mich lautstark: »Du stures starrköpfiges kleines Biest. Unterstehe dich und mache auch nur einen Schritt in mein Haus! Hinaus mit dir, auf der Stelle! Du bist genauso missraten wie deine Mutter. Kein Wunder, dass sie sich umgebracht hat.«
Als mich Mrs Stone aus meinen Tagträumen riss, tat es mir fast Leid.
»Winter«, sie kam auf mich zu und machte ein ehrlich besorgtes Gesicht, »du musst jetzt wirklich gehen. Mrs Harrison regt sich zu sehr auf.«
»Nicht so sehr wie ich«, erwiderte ich ohne aufzustehen.
»Ich verstehe dich nicht«, sagte sie. »Was willst du eigentlich?«
»Ich will meine Großtante kennen lernen. Was ist daran so ungewöhnlich? Darf ich das etwa nicht?«
»Aber sie… du verstehst sicher, dass sie immer noch sehr bestürzt ist, ich meine, nach allem, was geschehen ist. Sie ist es bis heute. Sie will nicht daran erinnert werden…« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Sie ist eine alte Frau. Warum kannst du sie nicht in Frieden lassen?«
»Das kann ich nicht. Ich muss sie sehen. Und wenn sie sich weiter weigert, gehe ich nach Hause und komme mit einem Zelt wieder. Ich werde so lange auf der Wiese kampieren, solange es nötig ist. Wenn es sein muss, Monate lang.«
Kopfschüttelnd wandte Mrs Stone sich wieder um und überquerte den Parkettboden. Ich schrie ihr nach: »Und das Porträt von meiner Mutter, das nehme ich mit.«
»Das ist nicht deine Mutter«, hörte ich eine Stimme. »Das bin ich.«
Ich blickte auf. Auf dem ersten Treppenabsatz stand eine alte Dame in einem schweren, golden und weiß gemusterten Morgenmantel. Sie sah majestätisch aus, fast wie eine chinesische Kaiserin. In ihrer Hand befand sich tatsächlich ein Gehstock, damit hatte ich in meinem Tagtraum also Recht gehabt.
Der Gehstock verlieh ihr Strenge und ich rechnete fast damit, dass sie ihn nach mir werfen würde. Außerdem hätte sie mich nicht verfehlt, da gehe ich jede Wette ein.
Ich stand auf und starrte sie an. Sie starrte zurück. Sie sah nicht wirklich streng aus, nur stark. Sie hätte mich den ganzen Tag so anstarren können, ohne auch nur einmal zu blinzeln oder wegzuschauen. So, wie sie da stand, erinnerte sie mich an einen Keilschwanzadler.
»Du hast bekommen, was du wolltest«, sagte sie. »Du hast mich gesehen. Jetzt kannst du gehen.«
Aber wir wussten beide, dass ich das nicht tun würde.
»Deshalb bin ich nicht hier.«
»Sondern?«
»Ich habe eine Frage.«
Damit hatte sie nicht gerechnet. Am Fuß der Treppe drehte sich Mrs Stone zu mir um. Ich konnte den Ausdruck auf ihrem Gesicht aber nicht erkennen, weil ich gleich wieder wegsah. Mrs Harrison kam langsam die Treppe herunter, wandte den Blick ab und zu zu Boden, um nicht zu stolpern, doch die meiste Zeit starrte sie mich mit unveränderter Härte an.
Sie erreichte den Fuß der Treppe und ging auf mich zu. Trotz des Gehstocks hinterließen ihre Schritte einen festen und regelmäßigen Klang. Als sie zwei Meter von mir entfernt war, blieb sie stehen.
»Was möchtest du wissen?«, fragte sie.
»Wie ist meine Mutter gestorben?«
Ich hörte, wie Mrs Stone hinter ihr nach Luft schnappte. Dann kamen auch ihre Schritte eilig in unsere Richtung, aber im Vergleich zu Mrs Harrison klangen sie leicht und irgendwie flüchtig.
Ich sah Mrs Stone nicht an.
»Willst du damit sagen, dass du es nicht weißt? Erinnerst du dich denn nicht?«
»Nein.«
Ich schüttelte den Kopf. Jetzt bekam ich Angst. Da stimmte etwas nicht.
Mrs Stones Gesicht tauchte neben Mrs Harrison auf. Auf einmal standen sie beide da und starrten mich an. Zwei alte Gesichter, vom Schrecken verzerrt. Zwei Gesichter, die Sprünge bekamen, auseinander fielen, sich auflösten, als sie mit vor Entsetzen starrem Blick sahen, was ich getan hatte. Ich, Winter De Salis.
Und plötzlich wurde die Erkenntnis zu schrecklicher Gewissheit. Ich wusste es. Und begriff, dass ich es immer schon gewusst hatte. Ich stieß einen Schrei aus, einen gellenden Schrei, und rannte aus dem Haus, mein Gesicht in beiden Händen verborgen. Ich wollte nicht mehr hinsehen, wollte das grauenhafte Bild nicht wahrhaben. Ich rannte und rannte, bis die quälende weiße Einfahrt und die lange schwarze Asphaltstraße hinter mir lagen und ich endlich Warriewood erreicht hatte und die steinernen Pfeiler meiner Kindheit.
20
»Geht’s wieder?«, fragte Jessica.
Ich nickte.
»Du warst ja völlig hysterisch. Ich habe noch nie einen
Menschen gesehen, der so außer sich
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