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Winter

Winter

Titel: Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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ihnen nicht schadet: denn sie sind voller Tod, indem sie voller Leben sind.
    Aber vom Erleben haben wir hier nicht zu reden, es ist ein Geheimnis, kein sich verschließendes, keines, das den Anspruch macht, versteckt zu werden, es ist das seiner selbst sichere Geheimnis, das wie ein Tempel offen steht, dessen Eingänge sich rühmen Eingang zu sein, zwischen überlebensgroßen Säulen singend, daß sie die Pforten sind.
    Aber (und damit, Fräulein H., bin ich erst wieder bei Ihrem Brief) wie tun wirs, um auf das Erleben recht vorbereitet zu sein, das uns in menschlichem Bezug, in der Arbeit, im Leiden irgendwann ergreift und für das wir nicht ungefähr sein dürfen, weil es selber genau ist, so genau, daß wir nur im Gegensatz begegnen können, nie ein Zufall; Sie haben sich selber mehrere Wege des Lernens entdeckt, und man fühlt, daß Sie aufmerksam und nachdenklich darauf gegangen sind. So haben auch die Erschütterungen, von denen Sie schreiben, Sie dichter zusammengerüttelt und nicht verschüttet – ich möchte, soviel ich es vermag, Ihre Beschäftigung mit dem Tode unterstützen, sowohl von der biologischen Seite her (indem ich Wilhelm Fließ nahebringe und seine sehr merkwürdigen Forschungen: ein kleines Fließsches Buch sende ich Ihnen nächster Tage) als auch indem ich Sie auf einige bedeutende Menschen aufmerksam mache, die sich über den Tod reiner, stiller und großartiger besonnen haben. Zunächst Einen: Tolstoi.
    Es gibt von ihm eine Erzählung, die der Tod des Iwan Iljitsch heißt; an dem Abend nämlich, als Ihr Brief kam, empfand ich sehr stark den Antrieb, diese außerordentlichen Seiten wieder zu lesen, – ich tat es, und indem ich an Sie dachte, las ich sie Ihnen beinah vor. Diese Geschichte steht in dem siebenten Band (dritte Serie, der bei Eugen Diederichs erscheinenden Gesamtausgabe, zusammen mit »Wandelt, dieweil ihr das Licht habt« und »Herr
und Knecht«); ist Ihnen das Buch erreichbar? Ich wünschte, daß Ihnen vieles von Tolstoi erreichbar wäre, die zwei Bände »Lebensstufen«, die Kosaken, Polikuschka, der Leinwandmesser, drei Tode: Sein enormes Naturerleben (ich weiß kaum einen Menschen, der so leidenschaftlich in die Natur eingelassen war) setzte ihn erstaunlich in den Stand, aus dem Ganzen heraus zu denken und zu schreiben, aus einem Lebensgefühl, das vom feinverteiltesten Tode so durchdrungen war, daß er überall mit enthalten schien, als ein eigentümliches Gewürz in dem starken Geschmack des Lebens –, aber gerade deshalb konnte dieser Mensch so tief, so fassungslos erschrecken, wenn er gewahrte, daß es irgendwo den puren Tod gab, die Flasche voll Tod oder diese häßliche Tasse mit dem abgebrochenen Henkel und der sinnlosen Aufschrift »Glaube, Liebe, Hoffnung«, aus der einer Bitternis des unverdünnten Todes zu trinken gezwungen war. Dieser Mensch hat an sich und an anderen viele Arten von Todesangst beobachtet, denn auch noch seiner eigenen Furcht Beobachter zu sein, war ihm durch seine natürliche Fassung gegeben, und sein Verhältnis zum Tode wird bis zuletzt eine großartig durchdrungene Angst gewesen sein, eine Fuge von Angst gleichsam, ein riesiger Bau, ein Angst-Turm mit Gängen und Treppen und geländerlosen Vorsprüngen und Abstürzen nach allen Seiten – nur, daß die Kraft, mit der er auch noch den Aufwand seiner Angst erfuhr und zugab, im letzten Augenblick vielleicht, wer weiß es, in unnahbare Wirklichkeit umschlug, plötzlich dieses Turmes sicherer Boden, Landschaft und Himmel war und der Wind und ein Flug Vögel um ihn – …
    Briefe II (Lotte Hepner, 8. 11. 1915), 52-58
    Das XIX . Sonett an Orpheus
    Wandelt sich rasch auch die Welt
wie Wolkengestalten,
alles Vollendete fällt
heim zum Uralten.
    Ãœber dem Wandel und Gang,
weiter und freier,
währt noch dein Vor-Gesang,
Gott mit der Leier.
    Nicht sind die Leiden erkannt,
nicht ist die Liebe gelernt,
und was im Tod uns entfernt,
    ist nicht entschleiert.
Einzig das Lied überm Land
heiligt und feiert.
    Werke I , 743
    Ihre Sinne gingen ein, einer nach dem andern, zuerst das Gesicht. Es war im Herbst, man sollte schon in die Stadt ziehen, aber da erkrankte sie gerade, oder vielmehr, sie fing gleich an zu sterben, langsam und trostlos abzusterben an der ganzen Oberfläche. Die Ärzte kamen, und an einem bestimmten Tag waren

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