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Winter

Winter

Titel: Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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sie alle zusammen da und beherrschten das ganze Haus. Es war ein paar Stunden lang, als gehörte es nun dem Geheimrat und seinen Assistenten und als hätten wir nichts mehr zu sagen. Aber gleich danach verloren sie alles Interesse, kamen nur noch einzeln, wie aus purer Höflichkeit, um eine Zigarre anzu
nehmen und ein Glas Portwein. Und Maman starb indessen.
    Werke VI (Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge), 811
    Erinnere dich an Menschen, die du beisammen fandest, ohne daß sie eine gemeinsame Stunde um sich hatten. Zum Beispiel Verwandte, die sich im Sterbezimmer einer wirklich geliebten Person begegnen. Da lebt die eine in dieser, die andere in jener tiefen Erinnerung. Ihre Worte gehen aneinander vorbei, ohne daß sie von einander wissen. Ihre Hände verfehlen sich in der ersten Verwirrung. – Bis der Schmerz hinter ihnen breit wird. Sie setzen sich hin, senken die Stirnen und schweigen. Es rauscht über ihnen wie ein Wald. Und sie sind einander nahe, wie nie vorher.
    Werke V (Zur Melodie der Dinge), 417
    Der Tod der Geliebten
    Er wußte nur vom Tod, was alle wissen:
daß er uns nimmt und in das Stumme stößt.
Als aber sie, nicht von ihm fortgerissen,
nein, leis aus seinen Augen ausgelöst,
    hinüberglitt zu unbekannten Schatten,
und als er fühlte, daß sie drüben nun
wie einen Mond ihr Mädchenlächeln hatten
und ihre Weise wohlzutun:
    da wurden ihm die Toten so bekannt,
als wäre er durch sie mit einem jeden
ganz nah verwandt; er ließ die andern reden
    und glaubte nicht und nannte jenes Land
das gut gelegene, das immersüße –
Und tastete es ab für ihre Füße.
    Werke I , 561 f.
    Ã” Lacrimosa
    (Trilogie zu einer künftigen Musik von Ernst Křenek)
    I
    Â 
    Oh Tränenvolle, die, verhaltner Himmel,
über der Landschaft ihres Schmerzes schwer wird.
Und wenn sie weint, so weht ein weicher Schauer
schräglichen Regens an des Herzens Sandschicht.

Oh Tränenschwere. Waage aller Tränen!
Die sich nicht Himmel fühlte, da sie klar war,
und Himmel sein muß um der Wolken willen.

Wie wird es deutlich und wie nah, dein Schmerzland,
unter des strengen Himmels Einheit. Wie ein
in seinem Liegen langsam waches Antlitz,
das waagrecht denkt, Welttiefe gegenüber.
    Â 
    II
    Â 
    Nichts als ein Atemzug ist das Leere, und jenes
grüne Gefülltsein der schönen
Bäume: ein Atemzug!
Wir, die Angeatmeten noch,
heute noch Angeatmeten, zählen
diese, der Erde, langsame Atmung,
deren Eile wir sind.
    Â 
    III
    Â 
    Aber die Winter! Oh diese heimliche
Einkehr der Erde. Da um die Toten
in dem reinen Rückfall der Säfte
Kühnheit sich sammelt,
künftiger Frühlinge Kühnheit.
Wo das Erdenken geschieht
unter der Starre; wo das von den großen
Sommern abgetragene Grün
wieder zum neuen
Einfall wird und zum Spiegel des Vorgefühls;
wo die Farbe der Blumen
jenes Verweilen unserer Augen vergißt.
    Werke II , 182-184
    Â»Wehe denen, die getröstet sind«, so ähnlich notiert die mutige Marie Lenéru in ihrem merkwürdigen »Journal«, und hier wäre ja auch Trost eine der vielen Ablenkungen, eine Zerstreuung, also im tiefsten ein Leichtsinniges und Unfruchtbares. – Selbst die Zeit »tröstet« ja nicht, wie man oberflächlich sagt, sie räumt höchstes ein, sie ordnet, – und nur weil wir die Ordnung, zu der sie so still mitwirkt, später so wenig genau nehmen, ja sie so wenig betrachten, daß wir das nun Eingestellte und Besänftigte, im großen Ganzen Versöhnte, statt es dort zu bewundern, nur weil es uns nicht mehr so wehe tut, für eine unsrige Vergeßlichkeit und Schwäche des Herzens halten. Ach wie wenig vergißt es, das Herz, – und wie stark wäre es, wenn wir ihm nicht seine Aufgaben entzögen, ehe sie völlig und eigentlich geleistet sind! – Nicht sich trösten wollen über einen solchen Verlust, müßte unser Instinkt sein, vielmehr
müßte es unsere tiefe schmerzhafte Neugierde werden, ihn ganz zu erforschen, die Besonderheit, die Einzigkeit gerade dieses Verlustes, seine Wirkung innerhalb unseres Lebens zu erfahren, ja wir müßten die edle Habgier aufbringen, gerade um ihn , um seine Bedeutung und Schwere, unsere innere Welt zu bereichern … Ein solcher Verlust ist, je tiefer er uns trifft, und je heftiger er uns angeht, desto mehr eine Aufgabe , das nun im Verlorensein hoffnungslos Betonte,

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