Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
deutsche Siedler … [einluden]; jetzt werden sie ein für alle Mal aus unserem Land vertrieben werden.« 15 Diese und ähnliche Erklärungen lösten derart tosende Beifallsstürme und derbes Fußgetrampel aus, dass schon bald niemand mehr von ordnungsgemäßen Verfahren und angemessener Entschädigung sprach. Diese Versicherungen, die Beneš’ diplomatischen Noten den Anschein von Angemessenheit verliehen hatten, wurden im ersten Siegestaumel beiseitegewischt.
Ende Frühjahr und Anfang Sommer 1945 wurde eine unbekannte Zahl Deutscher erschossen, gelyncht oder zu Tode geprügelt. Die Bürger von Brno (Brünn) trieben alle Deutschen zusammen, die sie auftreiben konnten (etwa 20 000), und zwangen sie, bis nach Österreich zu marschieren. Wegen des Mangels an Lebensmitteln, des
Ausbruchs einer Ruhrepidemie und einer praktisch völlig fehlenden Organisation kamen schätzungsweise 1700 Menschen ums Leben. Es kam zu weiteren Übergriffen. In einem Bericht heißt es:
In Nový Bydžov wurden 77 gefangen genommene deutsche Soldaten hingerichtet; in der Gebirgsstadt Špindlerův Mlýn wurden 30 deutsche Zivilisten sowie 50 Soldaten ermordet; in der Nähe von Přerov wurden 265 ermordet, darunter 120 Frauen und 74 Kinder unter 14 Jahren. In Postoloprty grub ein tschechisches Ermittlungsteam später die Leichen von 763 Deutschen aus, die man in dem Gebiet zusammengetrieben und liquidiert hatte. 16
Auf ein ordentliches Verfahren wurde, vor allem in den ersten Wochen, weitgehend verzichtet. In manchen Fällen wurden angebliche Kollaborateure kurzerhand umgebracht; in anderen wurden sie in behelfsmäßige Gefängnisse geschleppt, wo sie verhört und gefoltert wurden. In vielen Städten wurde es zu einer Art Volkssport, ansässige Deutsche zu Krüppeln zu schlagen. Zu solchen Spektakeln versammelten sich Menschenmengen und klatschten Beifall. Für die lokalen Ordnungshüter war die grobe Behandlung keine Rechtlosigkeit, sondern Gerechtigkeit. Die Deutschen erhielten die gleichen Rationen wie die Juden während des Krieges und wurden daran gehindert, Hotels, Restaurants und Läden zu betreten. Sie durften in der Öffentlichkeit nicht mehr Deutsch sprechen. In manchen Städten wurden sie gezwungen, farbige Armbänder zu tragen; in anderen wurden ihnen Hakenkreuze auf den Rücken gemalt. Ihre Schulen wurden geschlossen und viele Unternehmen beschlagnahmt. Tschechische Frauen, die im Ruf standen, Beziehungen mit Deutschen zu haben, wurden gedemütigt. Es verwundert nicht, dass es in dieser aufgeheizten Atmosphäre zu schrecklichen Missverständnissen kam. Anfang Mai wurde ein alter Mann in einem Prager Krankenhaus zu Tode geprügelt, nachdem er ein Dorf im Sudetenland als Heimatort angegeben hatte. Die Mörder nahmen an, er sei Deutscher, obwohl er in Wirklichkeit Tscheche war. Auf jeden Fall tat er von seinem Krankenhausbett aus bestimmt keiner Fliege etwas zuleide.
Bild 6
Deutsche, umzingelt von wütenden Tschechen
Ein paar Wochen nach Kriegsende machte Hana Stránská (die 27-jährige Frau, die bei meinem Vater im Büro arbeitete) einen Ausflug in den von den Amerikanern besetzten Kurort Marienbad. Sie stieß auf den Straßen überall auf unbekümmerte und Witze reißende US-Soldaten und war ganz empört, als sie einige von ihnen »Arm in Arm mit Dirndl tragenden sudetendeutschen Fräuleins« sah. 17 Hana konnte die Lagerüberlebenden nicht vergessen, die sie auf den Straßen und in Bussen gesehen hatte, mit ihren ausgemergelten Gesichtern, vernarbten Körpern und den Stoppelhaaren, die erst wieder anfingen zu wachsen.
Während sie durch die Straßen schlenderte, wurde sie von dem Klang eines tschechischen Liebesliedes und dem Anblick einer Gruppe Männer angelockt, die mitten auf der Straße sangen und tanzten. Wie sie schnell merkte, handelte es sich nicht um gewöhnliche Sänger; in Wirklichkeit waren es deutsche Gefangene, die von einem Kontingent tschechischer Soldaten zur Vorführung gezwungen worden waren. Jedes Mal wenn die Deutschen stockten oder aus dem Takt kamen, schrieen die Soldaten sie an, noch mal von vorn anzufangen. Hana grinste.
Ein US-Militär in der Nähe war überhaupt nicht begeistert. Er brüllte die Tschechen an aufzuhören. »Der Krieg ist vorbei, also hört mit eurer Schikaniererei auf!«, rief er. Einige Kameraden von ihm stimmten zu. 18
Da platzte Hana der Kragen. »Wie können Sie es wagen?«, fragte sie den Amerikaner. »Von wo in den Staaten kommen Sie überhaupt?«
»Mississippi«, sagte
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