Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
vorbei. Er hinterließ viele Löcher. Manche konnten geflickt werden, andere nicht.
Das war also das Zeugnis. Mein Vater war kein Stoiker, genaugenommen das Gegenteil. Die Gefühle waren da und hatten ihm seit Jahren zu schaffen gemacht. Vermutlich hatte er mit der Idee, das zu veröffentlichen, angefangen zu schreiben, aber er muss zu dem Schluss gelangt sein, dass es seine Kräfte überstieg. Warum hatte man seine Mutter und Vettern weggebracht?
Später in der Geschichte fährt Peter aufs Land zum Haus seiner Kindheit. Die Tür wird von einem auffallend kleinen Mann geöffnet. Peter stellt sich vor und fragt, ob er eintreten und sich umsehen dürfe. Der Mann zuckt verlegen die Achseln, macht dann den Mund auf und gibt unverständliche Laute von sich. Nach einem Moment wird Peter klar, dass sein Gastgeber taubstumm ist. Nach ungeschickten Versuchen, mit ihm zu kommunizieren, verabschiedet Peter sich höflich. »Ich bin dankbar«, denkt er bei sich, als er weggeht; die Begegnung muss ein Zeichen gewesen sein: »Die Vergangenheit sollte für ihn taub und stumm bleiben. Sie sollte weder gehört noch ausgesprochen werden.«
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EINE WELT GROSS GENUG FÜR UNS BEIDE
I m Krieg hatte Beneš diplomatische Rückendeckung für sein Vorhaben gesucht, die Deutschstämmigen aus der Tschechoslowakei zu vertreiben, bis auf jene, die nachweisen konnten, dass sie gegen die nationalsozialistische Besatzung Widerstand geleistet hatten. Im Jahr 1944 legte er den Großmächten (Vereinigte Staaten, Großbritannien und Sowjetunion) einen Zehn-Punkte-Plan vor, in dem er die Vertreibung von etwa zwei Drittel der Deutschen seines Landes vorschlug. Die Umgesiedelten sollten das Recht haben, ihren ganzen beweglichen Besitz mitzunehmen, und für den Rest eine Entschädigung erhalten. Er versprach, den Prozess innerhalb von zwei Jahren abzuschließen. »Unser Volk«, erklärte er bei Kriegsende, »kann nicht länger mit den Deutschen im selben Land leben.« 13
Diese Politik der Konfiszierung und Vertreibung – verkörpert in den sogenannten Beneš-Dekreten – gab einen sehnlichen Wunsch wieder, der praktisch der gesamten tschechischen Bevölkerung in Fleisch und Blut übergegangen war. Ihr ganzes Leben lang und während der gesamten überlieferten Erinnerung ihrer Nation hatten die Tschechen mit ihren deutschen Nachbarn das Territorium geteilt. Das eine Volk hatte die Ambitionen des jeweils anderen vereitelt, und beide Völker hatten ihre eigene Identität bewahrt, obwohl in all den Jahren Ehen zwischen Tschechen und Deutschen geschlossen, selbstverständlich auch persönliche Freundschaften und Handelsbeziehungen gepflegt worden waren. Es war keineswegs unvermeidlich gewesen, dass diese enge Beziehung in einem Krieg beendet wurde, aber der Krieg war gekommen und hatte einen tiefen Graben gerissen.
Im Mai 1945 hatten die meisten Tschechen kein Interesse daran, eine neue Beziehung zu den Deutschen zu finden; sie wollten diese Beziehung einfach beenden.
Als am 17. Mai eine der großen demokratischen Parteien ihre Siegesfeier in Prag veranstaltete, war unser Freund und ehemaliger Nachbar Prokop Drtina unter den Hauptrednern; wenig später wurde er Justizminister und eine zentrale Figur in der neuen Regierung. Für diesen Anlass, eine Ansprache vor einer großen und begeisterten Versammlung künftiger Wähler, hatte er seine politischen Antennen ganz ausgefahren. Später räumte er ein, dass eine Verunglimpfung der Deutschen im Jahr 1945 vor einem tschechischen Publikum eine so günstige »demagogische Gelegenheit« war, dass man sie keinesfalls versäumen durfte. Sich die Deutschen vom Hals zu schaffen, sei, so sagte er in seiner Rede, »die historische Aufgabe unserer Generation.… Unser neues Land kann nur als ein reiner Staat aufgebaut werden.… Einer von uns muss gehen – entweder die Deutschen oder wir – und weil dies ein tschechisches Land ist und wir die Sieger sind, sind sie diejenigen, die gehen müssen!« 14
Der Führer der Kommunisten Klement Gottwald schürte das gleiche Feuer, indem er andeutete, dass Vertreibungen aus Gründen gerechtfertigt wären, die tiefe Wurzeln in der Vergangenheit hätten. »Jetzt werden wir endgültig für den Weißen Berg abrechnen«, versprach er. »Und nicht nur das; wir [werden] noch weiter in die Geschichte unseres Landes zurückgehen; indem wir den Besitz der Deutschen beschlagnahmen, werden wir die Fehler korrigieren, welche die Könige der Přemysliden-Dynastie begangen hatten, die
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