Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
er.
»Miss-iss-ip-pi?«, sagte Hana und betonte jede einzelne Silbe sarkastisch. »Aha. Also sind Sie den weiten Weg von Miss-iss-ip-pi hergekommen, um uns in der Tsche-cho-slo-wakei zu sagen, wie wir unseren verräterischen nazistischen Abschaum, unsere Gefangenen behandeln sollen. Sie halten es für übertrieben, wenn wir diesen Abschaum der Menschheit demütigen, indem wir sie tschechische Volkslieder singen lassen? Wo waren Sie denn die ganze Zeit? Wissen Sie, was die gemacht haben? Wissen Sie, dass sie Millionen gefoltert und ermordet haben? Oder haben Sie davon noch nichts gehört? Oder vielleicht«, sagte Hana und holte tief Luft, »sympathisieren Sie sogar mit denen, weil ihr tote Neger einfach in den Fluss werft?«
Ihre Worte sorgten für einige Aufregung. Aufgebrachte und empörte Soldaten versammelten sich um sie, Hanas eigener Satz wurde nun wiederum ihr selbst an den Kopf geworfen: »Wie können Sie es wagen?«
Ein anderer Amerikaner schritt ein. »Sie hat absolut Recht«, sagte er. »Ich komme gerade von diesen Lagern, wo wir die Insassen befreit haben. Ihr hättet das sehen sollen. Außerdem wird diesen Deutschen doch kein Haar gekrümmt.« Und zu dem ersten Soldaten sagte er: »Du und ich, wir halten uns da einfach raus, okay?«
Wie viele Tschechen, auch meine Eltern, hatte Stránská die meiste Zeit mit Deutschen zusammengelebt. Sie hatte sie an der Schule gekannt, die Sommerferien mit ihnen verbracht, ihre Sprache gelernt, sie hatten miteinander gegessen und gefeiert. Aber der Krieg hatte sie verändert. Später fasste sie ihre Gedanken an jenem Tag in Marienbad zusammen:
Ich werde keinem Deutschen glauben, der behauptet, er sei unschuldig. Wer würde schon eine so enorme Schuld zugeben? Was mich angeht, sind sie schuldig, bis ihre Unschuld erwiesen ist. Und das blieben sie für mich auch für den Rest meines Lebens. Ich schwor mir, dass mir niemals ein deutsches Wort über die Lippen kommt, wenn eine andere Sprache den Zweck erfüllt … dass ich niemals bereitwillig einen Fuß auf deutschen oder österreichischen Boden setzen werde … keine deutschen Waren kaufe, ob große oder kleine … nicht mit einem Deutschen oder Österreicher reden werde, nicht einmal um nach der Uhrzeit zu fragen. Bei der Vorstellung, dass ein Deutscher mich anlächeln könnte, bekam ich eine Gänsehaut. Die Welt ist groß genug, dass wir uns nicht über den Weg laufen müssen.
Als ich zum ersten Mal diese Geschichte hörte, dachte ich bei mir: Wer hat Recht, der Soldat, der einschritt, oder der, der sagte, es sei nicht Amerikas Aufgabe, Streitigkeiten zu schlichten, die unter anderen aufkommen? Das ist eine Frage, die ich – in diesem Kontext und in vielen aktuelleren Situationen – immer noch stelle.
Wie in Hanas Darstellung gezeigt, ließen US-Soldaten, die Plzeň (Pilsen), Marienbad und andere Teile Südwestböhmens besetzten in der Regel keine Übergriffe auf Deutsche zu. Die Sowjets hingegen, die den Rest des Landes kontrollierten, spornten eher noch an und mischten kräftig mit. Diese Diskrepanz erfüllte viele Tschechen mit Groll – gegen die Amerikaner. ae
Mein Vater lernte als Historiker die bemerkenswerten und tief empfundenen Anstrengungen schätzen, die Deutschland unternahm, um das finsterste Kapitel seiner Geschichte wiedergutzumachen. Die Reaktion meiner Mutter war vergleichbar mit der Hanas.
Sie wollte nie ein gutes Wort im Namen Deutschlands hören. Noch Jahre später, als ich ihr sagte, dass ich mich in einen Mann namens Joe Albright verliebt hätte, bat sie mich, den Namen zu wiederholen. Als ich das tat, seufzte sie erleichtert. »Gott sei Dank ist es Albright, nicht Albrecht.«
O ffiziell sah der Plan der Regierung die Einteilung der Deutschstämmigen in drei Kategorien vor: 1) Kollaborateure und Opportunisten; 2) jene, die von den Nazis verhaftet und verfolgt worden waren; und 3) sonstige. Menschen in der ersten Kategorie mussten das Land verlassen, jene in der zweiten durften bleiben, und die in der dritten durften einen neuen Einbürgerungsantrag stellen. Auf Präsidialdekret hin wurden 270 000 Bauernhöfe mit einer Nutzfläche von mehr als 2,4 Millionen Hektar konfisziert.
Schon die »Rassegesetze« der Nationalsozialisten waren bei der Umsetzung auf große Schwierigkeiten gestoßen, weil Menschen mit einer klar zuordenbaren ethnischen Herkunft eher die Ausnahme, nicht die Regel waren. Bei der Durchsetzung der Beneš-Dekrete stand man vor einem ähnlichen Problem. Viele
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