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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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der Einrichtung, aus der das rasch wachsende Außenministerium entstehen sollte, und die Aufsicht über die alltäglichen politischen Tätigkeiten  – eine schwere Bürde, wenn man bedenkt, dass Masaryk einen großen Teil der Zeit im Ausland verbrachte. Auch der Umgang mit wichtigen Besuchern verschlang viel Energie; unter den Gästen dieses arbeitsreichen Sommers waren die beiden militärischen Ikonen des Westens: General Eisenhower und Feldmarschall Bernard Montgomery. Meinem Vater wurden diese Aufgaben nicht zuletzt deshalb anvertraut, weil er zu den wenigen Menschen zählte, die sowohl zu Masaryk als auch zu Clementis ein gutes Verhältnis hatten. Die beiden Diplomaten, die beruflich miteinander auskommen mussten, hätten kaum verschiedener sein können. Im Gegensatz zu dem informellen Masaryk war Clementis für gewöhnlich ernst und geschäftsmäßig und legte ein intellektuelles und ideologisches Engagement für den Kommunismus an den Tag. Masaryk hatte für Ideologien generell nichts übrig und war der Meinung, dass sie die Menschen im vergeblichen Streben nach närrischen Zielen ihr eigenes Wesen vergessen ließen. Als kleines Mädchen kannte ich sie beide: Masaryk mit seinem runden Gesicht, dem dicken Bauch und der scherzhaften Art, Clementis mit seinen strengen Augen und der tiefen Stimme.
    Als mein Vater gebeten wurde, beim Aufbau des Außenministeriums mitzuhelfen, sagte er seinen Vorgesetzten, dass er diesen Posten nur vorübergehend behalten werde. Genaugenommen drängte Clementis ihn, länger zu bleiben als geplant. Trotz seines relativ jungen Alters (36) stand mein Vater kurz vor der Ernennung zum Botschafter. Der logische Schritt war, mit Blick auf seine Erfahrung, eine Rückkehr nach Belgrad als Gesandter unseres Landes in Jugoslawien. Dáša beschloss, im Land bei einer Großtante zu bleiben, die Schule abzuschließen und auf Nachricht von ihrem Vater zu warten. Für den Rest von uns hieß es einmal mehr umziehen.
    Bild 21
    Masaryk und Clementis, 1946
    Monatelang klammerte sich Dáša an die Hoffnung, dass Dr. Deiml wirklich noch am Leben war. Es kursierten unzählige Gerüchte, etwa die Möglichkeit, dass ehemalige Häftlinge in die Sowjetunion geschickt worden seien. Im Februar 1946 erhielt sie schließlich einen Brief von Jiří Barbier, dem Zimmermann, der ihre Familie in Theresienstadt kennengelernt hatte und der Rudolf bei seiner letzten Reise begleitet hatte. Barbier, der Dášas Adresse über das Rote Kreuz erfahren hatte, entschuldigte sich, dass er der Überbringer schlechter Nachrichten war, glaubte aber, dass sie die Wahrheit womöglich ohnehin bereits erfahren hatte. Dem war aber nicht so.
    Von Dášas Kummer erfuhr ich damals nichts, ich war noch so jung und mit mir selbst beschäftigt. Außerdem verbrachten wir nur zwei Monate in Prag, bevor wir wieder nach Belgrad abreisten. Im Rückblick kann ich mir ihren Schmerz kaum ausmalen; aber ich habe inzwischen erfahren, dass sie nicht die Einzige aus meiner Familie war, der so großes Leid widerfuhr.
     
    Meine Mutter machte in der Regel kein Hehl aus ihren Gefühlen. Wenn sie aufgebracht war, dann sagte sie es auch; wenn sie traurig war, flossen die Tränen. Aber als wir nach dem Krieg nach Prag zurückkehrten, bin ich im Nachhinein überzeugt, dass sie sich tapfer alle Mühe gab, ihren Schmerz zu verbergen. Sie hatte ihre Mutter und Schwester sehr geliebt, aber ich sah ihr den Kummer, den sie empfunden haben musste, nicht an.
    Auch mein Vater zeigte nach außen keine Anzeichen von Trauer. Darüber wunderte ich mich damals nicht sonderlich, denn mir wurde lediglich gesagt, dass meine Großeltern gestorben seien. Alfred war schon vor meiner Geburt verstorben; und Růžena, Olga und Arnošt waren Namen, mit denen ich nichts anfangen konnte; ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ich jemals jemanden Großmutter oder Großvater genannt hätte.
    Fünfzig Jahre danach, als ich die Umstände ihres Todes und vieler anderer Verwandter erfuhr, fragte ich mich wiederum, was mein Vater damals empfunden haben mochte. Ich konnte mir das Ausmaß seines Kummers ausmalen, hatte aber keinen konkreten Hinweis.
    Inzwischen habe ich einen. Beim Stöbern in den Kisten in meiner Garage entdeckte ich einen Ordner, der ein Dokument mit einem Umfang von 123 Seiten enthielt, dreizeilig, mit schmalem Rand. Der Text war sauber abgetippt, mit wenigen Korrekturen mit Bleistift. Es handelte sich um den Versuch meines Vaters, einen Roman zu schreiben. Er hatte

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