Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Bürger: Metzger, Bauern, Ladenbesitzer, Schneider, Fabrikarbeiter. Von den Todeslagern hätten sie nichts gewusst; sie hätten für die Nationalsozialisten noch nie etwas übrig gehabt; sie seien nur aus Angst in die Partei eingetreten; sie hätten nur ihre Familie schützen wollen; man könne ihnen fairerweise keine Schuld geben. Die tschechoslowakische Regierung erwiderte darauf, dass es unmöglich sei, das Verhalten jedes Einzelnen zu bewerten. Es wurden Listen der Deutschen mit nachweislichen antifaschistischen Referenzen aufgestellt; sie durften bleiben, aber andere mussten das Land verlassen.
Die Vertreibung der Deutschstämmigen ist noch heute umstritten. War das eine legitime Antwort auf die Kriegsverbrechen, oder
war es eine übereifrige Reaktion aus Rachsucht? War schon das Konzept an sich fehlerhaft oder lediglich die Durchführung? Trug sie dazu bei, aus der Tschechoslowakei ein besseres Land zu machen?
Man konnte mit Sicherheit für die Deportation von Personen plädieren, die sich erwiesenermaßen, nach einem objektiven Prozess, an der Verfolgung ihrer Nachbarn aktiv beteiligt hatten. Gemäß der Linie Beneš’ wurden jedoch ein Deutscher und ein Tscheche, die sich genau gleich verhalten hatten, unterschiedlich beurteilt. Passiver Gehorsam seitens eines Tschechen oder Slowaken war akzeptabel, bei einem Deutschen hingegen nicht. Viele Deutsche, die vertrieben wurden, hatten ihre Strafe zweifellos verdient, aber es verloren auch viele, die sich nichts zuschulden hatten kommen lassen, ihre Heimat.
Meine Ansichten zur tschechoslowakischen Politik in dieser Phase sind geprägt von meinen Erlebnissen als Erwachsene mit einem deutlichen Abstand zu den Leidenschaften jener Tage. Als Diplomatin verurteilte ich scharf ethnische »Säuberungen« in Zentralafrika und auf dem Balkan und plädierte für die Gründung eines internationalen Gerichtshofs für Kriegsverbrecher, um zu gewährleisten, dass für Verbrechen an der Menschlichkeit die individuelle, nicht die kollektive Verantwortung gesucht wird. Kollektivstrafen wie Zwangsvertreibungen werden in der Regel mit der Gewährleistung von Sicherheit gerechtfertigt, treffen aber so gut wie immer die Wehrlosen und Schwachen am härtesten. Laut den eigenen Zahlen der tschechoslowakischen Regierung waren 80 Prozent der Deutschen, die für die Vertreibung auserwählt wurden, Frauen, Kinder und Alte. 20 Bezeichnend scheint mir in diesem Zusammenhang auch, dass die Tschechen seinerzeit in Österreich-Ungarn zu den lautstärksten Fürsprechern der Minderheitenrechte gezählt hatten. Beneš hatte persönlich an der Einführung der gesetzlichen Schutzbestimmungen mitgewirkt, die im Völkerbund galten. Sein Engagement für diesen Grundsatz war zweifellos aufrichtig gewesen, aber die NS-Verbrechen hatten es zunichtegemacht.
Rechtsphilosophen haben lange darüber diskutiert, welches System besser ist: eines, in dem einige, die unschuldig sind, zusammen mit den Schuldigen bestraft werden, oder ein System, in dem die Unschuldigen schadlos gehalten werden, dafür aber auch einige
Schuldige der Strafe entgehen. Ich neige dazu, die Rechte der Unschuldigen zu schützen, aber meine Eltern, deren Wertvorstellung ich geerbt habe, befürworteten die Vertreibungspolitik. Als mein Vater einmal darüber schrieb, und das auch nur ganz knapp, räumte er ein, dass die Durchführung »gelegentlich mit einer übermäßigen Grausamkeit einherging, die kein anständiger Mensch verzeihen kann«. 21 Er gab den Kommunisten die Schuld an den Exzessen, aber in Wirklichkeit waren die Aktionen des Pöbels ein Produkt der Leidenschaft, nicht der Ideologie; die Nichtkommunisten trugen ebenso Schuld.
Erst in den neunziger Jahren und unter der Präsidentschaft Václav Havels sollten die Tschechen aufgefordert werden, dieses Kapitel ihrer Geschichte zu verarbeiten. Im Jahr 1992 sagte Havel und setzte damit seine persönliche Popularität und sein politisches Ansehen erheblich aufs Spiel:
Der Bazillus der Gewalt und des Bösen, den der Nationalsozialismus verbreitete, hat schließlich sogar seine Opfer angesteckt … Wir ließen uns auf das Prinzip der Kollektivschuld ein und ersetzten individuelle Strafe durch kollektive Rache. Jahrzehntelang wurde uns nicht erlaubt, dies einzugestehen, und selbst heute tun wir es mit großem Widerwillen. Aber genau wie die Deutschen imstande gewesen sind, über die dunklen Seiten ihrer Geschichte nachzudenken, müssen auch wir es sein. 22
Die verheerendste
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