Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
tschechische und sudetendeutsche Familien hatten die beiden Kulturen vermischt oder hatten zwischen den beiden Staatsbürgerschaften hin und her gewechselt, je nachdem, welche bequemer war. Selbst Hana Stránská, die als Kind deutsche Schulen besucht hatte, musste sich alle Mühe geben, ihre tschechische Abstammung zu beweisen. Ein Mann namens Emmanuel Goldberger hatte weniger Erfolg. Er war im Jahr 1942 aus einem Konzentrationslager geflohen und hatte sich am Ende der tschechoslowakischen Exilarmee angeschlossen. Da er in einer deutschsprachigen Familie aufgewachsen war, lehnte das Verteidigungsministerium seinen Antrag auf Heimkehr ab. Goldberger wurde vorgeworfen, er habe im Krieg die tschechische Identität lediglich angenommen, »um versteckt zu bleiben und Aufmerksamkeit zu vermeiden«, nicht aus »authentischen« nationalen Loyalitäten. Der Umstand, dass er Jude war, wurde nicht als mildernder Umstand angesehen. 19
Zu ihrem Verdienst muss man sagen, dass die Regierung unter Präsident Beneš rasch Maßnahmen ergriff, um die Exzesse einzuschränken.
Sie forderte ein Ende der außergesetzlichen Gewalt, brachte Tausende von Menschen wegen Diebstahls und Plünderung ins Gefängnis und steckte einen Rahmen ab für die Beurteilung von Fällen angeblicher Kollaboration. Mitte Juni erklärte Beneš, dass der Bevölkerungstransfer künftig lediglich in internationaler Kooperation und auf organisierte Weise fortgesetzt werde.
I m Juli, neun Wochen nach dem Tag der Kapitulation, trafen sich die Staatschefs der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und der Sowjetunion in Potsdam. Von dem Trio, das fünf Monate zuvor in Jalta zusammengekommen war, sollte lediglich Stalin während der gesamten Konferenz anwesend sein. Roosevelts Platz wurde von Truman eingenommen; Churchill musste sich nach wenigen Tagen entschuldigen und nach England zurückkehren, wo Wahlen stattfanden. Zu seinem Ärger entschieden die britischen Wähler, dass sie nunmehr, nachdem Deutschland besiegt war, seine Dienste nicht länger benötigten. af Seinen Stuhl in Potsdam besetzte Clement Attlee, der vergleichsweise blasse Führer der Labour Party. Nach der Diskussion um die künftige Verwaltung Deutschlands und Österreichs und der Organisation der Prozesse gegen Kriegsverbrecher fanden die Staatschefs Zeit, den »ordnungsgemäßen und humanen« Transfer der Deutschstämmigen aus der Tschechoslowakei zu billigen.
Die alliierten Regierungen akzeptierten Beneš’ Hauptargument, aber sie forderten ihn auch auf, das Tempo zu drosseln. Prag sollte die Deutschen erst dann deportieren, wenn die Besatzungsbehörden bereit waren, sie aufzunehmen, eine Wartezeit, die einige Monate dauern sollte. Die ersten Züge fuhren im Dezember. Die Deportation wurde von der Armee durchgeführt, die den Umkreis von ein oder zwei Dörfern gleichzeitig abriegelte, anschließend den deutschen Bewohnern mitteilte, dass sie das Land verlassen mussten. Nach den Bestimmungen der Alliierten sollten Familien nicht getrennt
und ausreichend Lebensmittel und Kleidung zur Verfügung gestellt werden. Für die Vertriebenen hieß das dennoch, ihr Land, den Hof, das Vieh, Ackergeräte und die Gräber der Vorfahren zurücklassen. Es gab kein Einspruchsrecht. Im Laufe der Deportationen, die ein Jahr dauern sollten, wurden mehr als 1,2 Millionen Menschen in die amerikanische Besatzungszone von Deutschland und weitere 630 000 in die sowjetische Zone geschickt. Hunderttausende waren schon vor dem offiziellen Beginn des Programms vertrieben worden. Am Ende blieben lediglich 250 000 Deutschstämmige in der Tschechoslowakei, nicht einmal zehn Prozent des Standes vor dem Krieg.
Z ur Rechtfertigung seiner Politik argumentierte Beneš, dass es unmöglich sei, die Bedingungen vor 1939 nach dem Krieg wiederherzustellen. Die sudetendeutsche Minderheit habe als Vorwand für das Münchner Abkommen gedient, das wiederum die Republik zerstört und sogar die Existenz des ganzen tschechischen Volkes in Gefahr gebracht habe. Darüber hinaus hätten Sudetendeutsche die Nazis begeistert und in weiten Kreisen unterstützt; so ein Volk dürfe sich niemals in der Tschechoslowakei zuhause fühlen. Schließlich sei die Präsenz der Deutschen eine Provokation; falls sie blieben, würden vermutlich Menschen aus Rachsucht getötet werden.
Zu ihrer Verteidigung gaben die meisten Sudetendeutschen an, dass sie von dem Ausmaß der NS-Gräueltaten nichts gewusst hätten. Sie seien, betonten sie, nur einfache
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