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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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Juden würden das Blut von Christen für ihre Riten verwenden. Der erwachsene Masaryk hatte keinen Sinn für solchen Aberglauben, einige seiner Landsleute dagegen schon. Im Jahr 1899 wurde eine 19-jährige Näherin mit durchschnittener Kehle und zerrissenen Kleidern in einem Wald gefunden. Es verbreitete sich das Gerücht, dass hier ein Ritualmord verübt worden sei. Die Polizei hatte keinen Verdächtigen vorzuweisen und verhaftete deshalb, angestachelt von der herrschenden Stimmung, Leopold Hilsner, einen Juden ohne festen Wohnsitz, den man in der Nähe des Waldes gesehen hatte. In einem Prozess, der die jüdische Bevölkerung des Landes traumatisierte und in ganz Europa Aufsehen erregte, wurde Hilsner auf der Basis von Indizien verurteilt. Masaryk legte erfolgreich Berufung ein und erzwang einen zweiten Prozess. In Pamphleten verurteilte er die Bigotterie und stellte die Fakten in Frage. c Die Episode lieferte Masaryks Gegnern neue Munition: Man warf ihm vor, von Juden Bestechungsgelder anzunehmen, und die Universität zwang ihn, seine Vorlesungen auszusetzen, bis sich die Proteste gegen ihn gelegt hätten.
    Masaryk war ein Geschöpf des viktorianischen Zeitalters, aber sein Verstand und sein Feingefühl waren durch und durch modern. Er ging so gut wie allem auf den Grund und schrieb überaus verständig (wenn auch nicht immer korrekt) über Selbstmord, die Sowjetunion, griechische Philosophie, Hypnose, Evolution, die Tugenden sportlicher Betätigung und das Tauziehen zwischen Naturwissenschaft und religiösem Glauben. Er vertrat Ideen, die man noch heute als fortschrittlich bezeichnen würde, zur Gleichstellung
der Frau und zum Zusammenhang zwischen einem gesunden Körper und einem langen Leben. Für Dogmen hatte er nichts übrig und hegte eine besondere Verachtung für jene Halbbildung, die Menschen in dem Glauben ließ, sie wüssten mehr, als sie tatsächlich wissen.
    Bild 9
    Tomáš Masaryk
    Masaryks Anschauung zum Nationalismus wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts außerordentlich wichtig. Der Professor pries den Patriotismus dafür, dass er einen Ansporn liefere, produktive Arbeit zu leisten, warnte aber, dass die Liebe zur Nation nicht den Hass auf andere impliziere. 13 Er bestand darauf, dass die Reinheit der »Rasse« in der modernen Welt weder wünschenswert noch durchführbar sei und dass keine Gruppe sich für ohne jeden Tadel halten dürfe. Er
wies ausdrücklich auf die Zeit hin, als er als kleiner Junge noch mit den Jungen aus der Nachbarstadt gekämpft hatte. »Jeden Sonntag«, erzählte er, »prügelten wir uns mit den Jungen von Podvorov um das Glockenläuten. Da haben wir den Nationalismus im kleinen.« 14
    Masaryk sah eine Welt, in der die etablierten Wahrheiten der religiösen Überzeugung, der politischen Ordnung und des wirtschaftlichen Standes aus den Fugen gerieten. Die Modernisierung war unerlässlich, aber zugleich gefährlich, weil sie den Menschen unter Umständen jede Möglichkeit nahm, sich intellektuell oder emotional zu verankern. Er setzte sich für folgende Lösung ein: Religion ohne die Zwangsjacke der Kirche, soziale Revolution ohne die Auswüchse des Bolschewismus und Nationalstolz ohne Bigotterie. Er glaubte an die Demokratie und die Fähigkeit des Menschen, zu lernen und zu wachsen. Es war sein Traum, eine tschechische Gesellschaft aufzubauen, die ihren Platz an der Seite der westlichen Länder einnehmen konnte, die er bewunderte.

4
DIE LINDE
    M ein Vater war fünf, und meine Mutter vier, als Erzherzog Ferdinand, der Habsburgische Thronerbe, im Juni 1914 in Sarajevo tödlich getroffen wurde. Das Attentat löste die Juli-Krise aus, die schließlich im Ersten Weltkrieg mündete, in dem Österreich-Ungarn, das deutsche Kaiserreich und das Osmanische Reich miteinander verbündet waren und gegen die führenden westlichen Länder, samt dem Zarenreich und später den Vereinigten Staaten, kämpften. Der gewaltige Konflikt brachte drei einst mächtige Reiche zu Fall: das Habsburger, das Osmanische und das Russische. Im Nachkriegseuropa entstand derweil eine neue, leicht entzündliche Mixtur, zu der der erste kommunistische Staat, ein vergrämtes Deutschland, ein kriegsmüdes England, ein argwöhnisches Frankreich und sieben frisch aus dem Boden geschossene unabhängige Staaten zählten, darunter die Tschechoslowakische Republik.
    Dieses Ergebnis hatte niemand vorhergesehen. Die nicht ganz so abenteuerlustigen tschechischen Nationalisten hofften, sich bei der österreichischen Krone

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