Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
aber im Schrank lässt, wenn Gewitterwolken drohen.
Genau wie extremer Nationalismus, Scheinheiligkeit und Rassismus weiterhin Bestandteil des heutigen Lebens sind, trifft das auch auf Folter, ethnische Säuberungen und Völkermord zu. In einer der unzähligen Kisten in meiner Garage stieß ich auf ein Zitat, das Otokar Březina, einem mährischen Dichter des 19. Jahrhunderts, zugeschrieben wird: »Es ist nicht länger möglich«, versicherte er, »die eigenen Brüder ungehört zu morden. Irgendjemand wird immer den Todesschrei hören und ihn von Mund zu Mund durch das ganze Land weitereilen lassen, wie ein Sturmwind, der das heilige Feuer zu einer Flamme entfacht.« Inzwischen können die Meldungen eines Völkermordes zwar den Wind überholen, und dennoch kann es versäumt werden, rechtzeitig Aktionen einzuleiten, um Menschenleben zu retten. Menschen mit den besten Absichten versuchen seit Generationen, eine wirksame Garantie gegen menschliche Gräueltaten zu schaffen, aber davon sind wir noch weit entfernt.
D er unveröffentlichte Roman meines Vaters endet mit einer Mahnung, und zwar zwischen dem Protagonisten Peter und einem Freund: »Die Hauptsache ist, man selbst zu bleiben, unter allen Umständen; das war und ist unser allgemeines Ziel.« Als Peter allein ist,
wiederholt er dieses Mantra, als suche er eine Quelle der Sicherheit in einer Welt, in der angebliche, absolute Wahrheiten ihre Bedeutung verloren haben: »Die Hauptsache ist, man selbst zu sein.« 64
Beim ersten Lesen fragte ich mich, was mein Vater mit diesem Satz wohl gemeint haben mochte. Spielte er womöglich indirekt auf das jüdische Erbe unserer Familie an? Inzwischen bin ich mir sicher, dass es nicht darum ging. Als er über die Zeit nach dem Krieg schrieb, eine Zeit, in der seine Landsleute untereinander gespalten waren, wie er erkannte, hatte er wahrscheinlich nicht die religiöse, geschweige denn ethnische Identität im Sinn. Für ihn hieß »man selbst sein« oder sich treu sein, den humanitären Wertvorstellungen entsprechen, die in der ersten Tschechoslowakischen Republik verfochten wurden. Die Ethik eines Tomáš G. Masaryk brannte am stärksten im Kopf und Herzen meines Vaters. In diesem Sinn ist die Vorstellung, »sich treu zu sein«, nicht etwa einengend, was für die Kategorien Nation und Glaube naturgemäß gilt. Genaugenommen spiegelt schon die Überzeugung an sich, dass »man selbst sein« ein lohnendes Ziel sei, einen tiefen Optimismus wider – insbesondere nach den Ereignissen, die Europa und die ganze Welt zwischen 1937 und 1948 erschütterten.
Es wäre tatsächlich eine gute Nachricht, wenn Menschen gegen ihre Natur gehandelt hätten, als sie unter dem Druck der Kriegsbedingungen mehr Grausamkeit als Mitgefühl und mehr Feigheit als Zivilcourage an den Tag legten; oder wenn jene, die begeistert Hitler und Stalin feierten, zunächst zu etwas anderem als »sie selbst« gemacht worden wären. Mit diesen Worten habe ich keineswegs die Absicht, eine philosophische oder gar theologische Diskussion über den Charakter des Menschen anzufangen. Es besteht überhaupt keine Notwendigkeit, über das hinauszugehen, was wir wissen und mit eigenen Augen gesehen haben.
In Anbetracht der in diesem Buch beschriebenen Ereignisse kommen wir an der Erkenntnis nicht vorbei, dass uns Menschen die Fähigkeit zu einer unaussprechlichen Grausamkeit oder – um den Rechtschaffenen gerecht zu werden – zumindest bis zu einem gewissen Grad zu einer moralischen Feigheit gegeben ist. In den meisten von uns steckt ein Stück weit der Verräter, der Ansatz eines Kollaborateurs,
eine Neigung zur Beschwichtigung, der Hauch des gefühllosen Gefängniswächters. Wer von uns hat noch nie andere entwürdigt, wenn nicht mit Worten oder Taten, so zumindest in Gedanken? Von der Wiege bis zum Grab ist in unserer Brust nicht alles eitel Sonnenschein. Manche sind deshalb zu dem Schluss gelangt, dass wir von unseren Führern eine eiserne Hand brauchen, eine Ideologie, die alles erklärt, oder einen historischen Groll, der als Dreh- und Angelpunkt für unser Leben dienen kann. Wieder andere untersuchen die Vergangenheit und zweifeln, ob wir jemals etwas daraus lernen werden. Stattdessen vergleichen sie uns Menschen mit einem Versuchstier im Labor in einem Laufrad, das rennt und rennt und nie vom Fleck kommt.
Wenn ich dieser trostlosen Prognose zustimmen würde, wäre ich heute morgen gar nicht erst aufgestanden, geschweige denn hätte dieses Buch geschrieben.
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