Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Ich ziehe die Diagnose Václav Havels vor, dessen Schlussfolgerungen über das menschliche Verhalten im Kalten Krieg geprägt wurden. Mitten in der Unterdrückung jener Jahre machte er zwei verschiedene Typen von Hoffnung aus. Die erste verglich er mit der Sehnsucht nach »einer Form von Rettung von außen«. Diese ließ die Menschen abwarten und nichts unternehmen, weil sie »das Gefühl verloren hatten, dass es irgendetwas gab, das sie tun könnten … Also warteten sie [im Grunde] auf Godot. … Aber Godot ist eine Illusion. Er ist das Produkt unserer eigenen Hilflosigkeit, ein Flicken auf einem Loch im Geist … die Hoffnung von Menschen ohne Hoffnung.«
»Auf der anderen Seite des Spektrums«, sagte Havel, gebe es jene, die hartnäckig behaupteten, sie würden »die Wahrheit sagen, einfach weil sie es für richtig hielten, ohne darüber nachzudenken, ob es morgen oder übermorgen oder irgendwann auch irgendwohin führen wird«. Auch dieser Drang ist absolut menschlich, genau wie die Neigung zur Verzweiflung. Ein solcher Wagemut, argumentierte Havel, erwächst aus dem Glauben, dass eine Wiederholung der Wahrheit an sich bereits sinnvoll ist, unabhängig davon, ob sie »geachtet oder erfolgreich oder zum hundertsten Mal unterdrückt wird. Zumindest heißt das, dass jemand nicht die verlogene Regierung unterstützt.« 65
Es gibt unzählige Fälle von Grausamkeit und Verrat in diesem Buch, aber das ist nicht das Vermächtnis, das ich mitnehme, wenn ich in das nächste Kapitel meines Lebens wechsle. In der Welt, die ich mir zu meiner Heimat auserwählt habe, muss sich selbst der kälteste Winter unweigerlich den Kräften des Frühjahrs beugen, und die düsterste Sichtweise der menschlichen Natur macht früher oder später Sonnenstrahlen Platz.
Richten wir deshalb das Augenmerk nicht auf den hartgefrorenen Boden, sondern auf die keimenden grünen Blätter, auf die Männer und Frauen, die jeder Unbill auf die richtige Weise, nämlich mit Mut und Zuversicht, begegnen. Denken wir an jene, die durch Hitlers Bomben enger zusammenrückten und in der Krise den Mut und die Stärke fanden, die sie fast vergessen hatten. Ehren wir die Soldaten, die an der Küste der Normandie ihr Leben riskierten und die sich in den Ardennen durch den Schnee kämpften, um einen Tyrannen zu besiegen. Erinnern wir uns an die Flieger und Soldaten, die in ihrem Exil darum kämpften, die Ehre ihres Landes wiederherzustellen – sowie an die Ladenbesitzer, die in dem wahnwitzigen Unterfangen, ihre Heimat zurückzufordern, Pflastersteine gegen Panzer warfen. Feiern wir den stillen, englischen Makler, der, während andere untätig blieben, auf eigene Faust Wege fand, das Leben meiner Cousine und Hunderter unschuldiger Kinder zu retten. Denken wir an die Courage einer Frau mittleren Alters, die mit Schmuggelware in der Handtasche, das Schicksal mutiger Männer im Sinn und Zyanid in ihrer Jackentasche durch die Straßen des besetzten Prags schlich. Erinnern wir uns an die Jungen und Mädchen, die den Mut hatten, Gedichte zu schreiben und Kunstwerke zu schaffen, sowie an die Erwachsenen, denen das Leben so wichtig war, dass sie über Philosophie diskutierten, sich der Heilkunst widmeten und ihre wenigen Habseligkeiten teilten – und das in einem Gefängnis, das ausdrücklich das Ziel hatte, ihren Geist zu brechen. Erquicken wir unsere Sinne mit dem Bild Jan Masaryks, der aus der Gesellschaft der Beschwichtiger, Faschisten und Kommunisten ausscherte, um einen Witz zu erzählen, auf dem Klavier zu klimpern und aus vollem Hals Lieder über Waldnymphen und Wassergeister zu schmettern. Stellen wir uns die leise Stimme eines jüdischen Gefangenen vor, der unter
den Sternen ein Requiem sang, während er neben einer eingestürzten Kirche in Lidice Erde schaufelte.
»Die Seele wird von Unglück und Kummer gereinigt, wie das Gold vom Feuer.« Das sagt die Großmutter in Božena Němcovás Roman. »Ohne Kummer gibt es auch keine Freude.«
Mein Leben lang habe ich nach Mitteln gegen alle Arten von Problemen gesucht, persönliche, soziale, politische, globale. Ich hege ein tiefes Misstrauen gegen Menschen, die simple Lösungen und Erklärungen von absoluter Gewissheit anbieten oder die von sich behaupten, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein. Allerdings bin ich ebenso skeptisch gegen all jene geworden, die andeuten, alles sei viel zu facettenreich und komplex, als dass wir daraus etwas lernen könnten, dass alles und jedes so viele Seiten habe, dass
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