Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
Vom Netzwerk:
Stimme Gehör findet. Wie inzwischen deutlich geworden sein sollte, war er kein Mensch, der sich damit begnügte, im Lehnstuhl sitzend über die Weltpolitik zu lesen. Er hatte den Wunsch, jedes einzelne Detail zu kennen, in die Motive der Staatschefs und Länder einzutauchen, ihre Geschichte zu lernen, die Meinungen aller Menschen zu sammeln, denen er begegnete, und nach Lösungen zu suchen, die seinem hohen Standard entsprachen. Viele Kinder lehnen sich gegen ihre Eltern auf; ich wollte meinen Vater stolz machen und so handeln, wie er unter vergleichbaren Umständen gehandelt hätte – sei es als Diplomat, Lehrer oder Bürger.
    Nach unserer Ankunft in den Vereinigten Staaten begann mein Vater eine zweite Karriere als Professor an der University of Denver, wo das Institut für internationale Politik heute seinen Namen trägt. Nach seinem Tod im Jahr 1977 veröffentlichte das Institut einen Gedenkband mit Aufsätzen zur tschechoslowakischen Geschichte. Der Band enthält Beiträge von ehemaligen Schülern, die Professor Korbels »Leidenschaft für die Lehre [und] Hingabe für die Wahrheit« anpriesen. 62 Im Jahr 2011 ehrte ihn auch das tschechische Außenministerium, in diesem Fall mit einem Film mit dem übersetzten
Titel: Der Mann mit der Pfeife. Eine Dokumentation über das Leben Josef Korbels.
    Der Film feierte im Herbst 2011 Premiere, als ich mich zur Einweihung einer Statue Woodrow Wilsons in Prag aufhielt. Eine ältere, in den zwanziger Jahren angefertigte Statue hatte vor dem Bahnhof gestanden, bis sie auf Befehl Reinhard Heydrichs zerstört wurde. Die neue hat mit einem vergleichbaren Denkmal für Tomáš Masaryk in Washington, D.C., ein Gegenstück, das ein Licht auf die tiefen historischen Bande wirft, die Tschechen und Slowaken mit den Vereinigten Staaten verbinden, ein Band, das auch Teil meines Vermächtnisses ist. Jahrelang rief meine Mutter am 4. Juli an und fragte, ob wir uns die Paraden und das Feuerwerk ansehen und patriotische Lieder singen würden. Sie war der Beweis (genau wie ihre Kinder und Millionen anderer Einwanderer), dass die Vaterlandsliebe von einem Land zu einem anderen übergreifen kann. In dem Dokumentarfilm berichtet mein Bruder, dass meine Mutter, obwohl mein Vater als der Intellektuelle und sie als die Temperamentvolle galt, von den beiden häufig die vernünftigere war. Letztlich vermissen wir sie, weil wir sie geliebt haben, beide gleich und für immer.
     
    I ch stehe tief in der Schuld all jener, die mir halfen, mehr über meine Familie und ihre Erlebnisse in Erfahrung zu bringen. Während des Holocaust entstanden viele bewegende Darstellungen von Überlebenden – sei es im Konzentrationslager oder im Versteck. Dazu kommen die Tagebücher all jener, die selbst nicht überlebten. Die Geschichten sind zwar alle für sich genommen wichtig, darüber hinaus aber vermitteln sie uns eine bessere Vorstellung von den Geschichten, die wir niemals hören werden, die Geschichten all jener, die nicht die nötigen Mittel, Kraft oder Gelegenheit hatten, ihre Gedanken zu Papier zu bringen. Die Angehörigen meiner Familie, die durch die Kugel oder das Gas oder Krankheiten ermordet wurden, hinterließen nur einen kleinen Stapel Briefe. Dieses Buch habe ich nicht zuletzt deshalb geschrieben, weil ich mehr erfahren wollte. Aus diesem Grund danke ich den bemerkenswerten Menschen, die gemeinsam mit meinen Angehörigen in Theresienstadt lebten, und
den vielen, die es sich seither zur Aufgabe gemacht haben, die Toten zu ehren. Das Andenken ist das Mindeste, das wir ihnen schulden.
    Wenn ich auf die Geschichten zurückblicke, die diese Seiten füllen, bin selbst ich von dem Ausmaß unserer Schuld gegenüber den Männern und Frauen beeindruckt, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft und gesiegt haben und die Einrichtungen geschaffen haben, die den Kommunismus eindämmten und letztlich besiegten. An erster Stelle ist hier der Nordatlantikpakt (NATO) zu nennen, dessen Ursprünge sich direkt bis zum Sturz Jan Masaryks aus dem Fenster des Außenministeriums in der Nacht des 9. März 1948 zurückverfolgen lassen. Sein Tod löschte den letzten Rest von Hoffnung aus, dass eine Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und dem Westen, die im Krieg so wichtig gewesen war, selbst in verwässerter Form weiterhin Bestand haben würde. Der europäische Winter, der mit Hitlers Besetzung von Prag begann, brach ein Jahrzehnt später mit dem Verlust des Lieblingssohns der Demokratie erneut aus. Heute wissen wir, was

Weitere Kostenlose Bücher