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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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von Einwanderern geleiteten Zeitung in Omaha, Nebraska, lanciert worden. »Es ist an uns, die wir außerhalb Österreichs leben, den ersten Schritt zu tun«, schrieb der Chefredakteur der Osvěta am 12. August 1914. »Lang leben die Vereinigten Staaten von Böhmen, Mähren, Schlesien und der Slowakei!« 17 Dieser Appell fand in Cleveland, Cedar Rapids, Chicago, Philadelphia und anderen Städten Gehör, wo Masaryk gemeinsam mit lokalen Organisationen in einem Pakt die sofortige Befreiung des Landes forderte. Solche Demonstrationen erregten zwar große Aufmerksamkeit, hatten aber keinerlei juristische Bedeutung. Masaryk hatte sich zum Ziel gesetzt, die politische Linie der Vereinigten Staaten zu verändern. In diesem Bestreben beflügelte ihn zwar Präsident Woodrow Wilsons Unterstützung des Prinzips der nationalen Selbstbestimmung, zugleich aber stand dem das Bestreben Washingtons
im Wege, Österreich-Ungarn aus dem Bündnis mit dem Deutschen Reich zu lösen, um den Krieg abzukürzen. Während des gesamten Jahres 1917 und in den ersten Monaten 1918 lehnte das US-Außenministerium eine Aufteilung des Reiches ab, weil es hoffte, Wien werde einem Separatfrieden zustimmen. Diese pragmatische Linie war jedoch kaum durchzuhalten, weil sie im Widerspruch zu Wilsons idealistischen Verlautbarungen stand. Als sich die Verhandlungen mit Österreich in die Länge zogen, äußerte die US-Regierung offen Sympathie für die Sache der Tschechoslowaken, wartete mit der förmlichen Anerkennung jedoch noch ab.
    Im Juni traf Masaryk Präsident Wilson im Weißen Haus. Als Kind hatte man mir erzählt, dass sich die beiden Staatsoberhäupter sofort angefreundet hätten, aber es besteht immer das Risiko von Spannungen, wenn zwei Professoren Gelegenheit erhalten, sich geistig zu messen. Wilson gestand Masaryk, dass er als Nachfahre schottischer Presbyterianer zur Dickköpfigkeit neige. Masaryk hielt den US-Präsidenten für »ein bisschen empfindlich«. 18 Beide wollten lieber reden als zuhören. Masaryk hielt ein knappes Plädoyer für die Unabhängigkeit, Wilson kommentierte den laufenden Kampf der Tschechoslowakischen Legion gegen die Bolschewiken. Ob die beiden Männer nun die Gesellschaft des anderen genossen oder nicht, die Ergebnisse waren aus Masaryks Sicht jedenfalls zufriedenstellend. Wenige Tage danach erklärte das State Department, dass »sämtliche Zweige der slawischen Rasse vollständig von der österreichischen Herrschaft befreit werden« sollten, 19 und im September erkannten die Vereinigten Staaten förmlich Masaryks Nationalrat als kriegführende Partei an. Diese Schritte, im Verein mit Wilsons Image als der Initiator einer neuen, ehrenhafteren Weltordnung sollten aus dem amerikanischen Präsidenten in der ganzen Tschechoslowakei einen Helden machen und dem internationalen Ansehen seines Landes einen noch nie dagewesenen Glanz verleihen.
    Um ganz sicherzugehen, dass es in den letzten Kriegstagen nicht zu einem Rückfall kam, beschloss Masaryk, am 18. Oktober eine Unabhängigkeitserklärung abzugeben. Das Dokument wurde in Washington mit einer Datumszeile in Paris veröffentlicht, wo die rebellische Regierung ihren Sitz hatte. Die entscheidenden Aktionen
fanden jedoch auf dem Schlachtfeld statt, wo alliierte Truppen den Rest des feindlichen Heeres in die Flucht schlugen, und in Prag, wo tschechische Politiker ihre österreichischen Aufseher aufforderten, das Land zu verlassen und den neuen Staat ins Leben riefen.
    Dieser Tag, der 28. Oktober 1918 – das tschechische Pendant für den 4. Juli oder den Sturm auf die Bastille –, blieb allen Beteiligten unvergesslich. In meiner Garage stieß ich in den Papieren meines Vaters auf eine Schilderung, die er genau ein halbes Jahrhundert danach schrieb:
    Ich war erst neun Jahre alt. In der vorigen Nacht wurde ich von patriotischen Liedern geweckt, die von den Lippen einer glücklichen Gruppe auf dem Weg zum Bahnhof unseres kleinen Orts Kyšperk ertönten, um die Hoheitszeichen des Reichs Österreich-Ungarn abzureißen. Ich sah ihnen vom Fenster aus mit einem Gefühl der Selbstachtung zu, spürte, dass ich an etwas überaus Bedeutendem teilnahm.
    Am nächsten Morgen zog Mutter mir den Sonntagsanzug an, gab mir eine doppelte Portion Butter zum Frühstück, eine Seltenheit im Krieg, und schickte mich in die Schule. Der ganze Ort, gut 2000 Menschen, war im Aufruhr. Sie umarmten sich gegenseitig, sangen und schrieen, hängten tschechische Fahnen auf und machten vor ihren Häusern

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