Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Liebkind zu machen, indem sie den Krieg unterstützten. Sie wollten auf diesem Weg ihre Aussichten auf Autonomie verbessern. Tomáš Masaryk führte eine beherztere Fraktion an, deren Mitglieder den Flächenbrand als Gelegenheit ansahen, sich vollständig zu befreien. Im April 1915 verfasste er eine sehr lange Denkschrift, die Österreich-Ungarn als einen »künstlichen Staat« bezeichnete und die Gründung eines »konstitutionellen und demokratischen Böhmens« versprach. 15 Im Juli, am 500. Jahrestag des Märtyrertods von Jan Hus, bekannte er sich selbst öffentlich als Gegner des Reiches. In den folgenden drei Jahren reiste er in freundlich gesinnte Hauptstädte in ganz Europa und den Vereinigten Staaten, um für die Unabhängigkeit seiner Nation zu werben.
Als Untertanen Österreich-Ungarns waren Tschechen und Slowaken gezwungen, in dessen Militär zu dienen. Viele hatten jedoch keine große Lust, ihr Leben im Namen einer deutschsprachigen Koalition gegen eine russische Armee zu riskieren, die aus slawischen Brüdern bestand. Diese Kluft zwischen Pflichterfüllung und persönlicher Wunschvorstellung wurde witzig in Jaroslav Hašeks Geschichten vom braven Soldaten Schwejk wiedergegeben, einem böhmischen Otto-Normalverbraucher, der, als er zur Musterung ging, in einem Rollstuhl vorfuhr. »Nieder mit den Serben!«, brüllte er und schwenkte dabei zwei Krücken über dem Kopf. Der dennoch eingezogene Schwejk wird später von seinem Leutnant gefragt, ob er sich denn freue, wenn er nun in der kaiserlichen Armee an die Front komme. »Melde gehorsamst, Herr Oberlajtnant, dass ich froh bin«, kommt die Antwort. »Das wird was Wunderbares sein, wenn wir beide zusammen für Seine Majestät den Kaiser und seine Familie fallen wern [sic!] …« 16
Hašek zählte zu den Tausenden tschechischen und slowakischen Soldaten, die während des Krieges die Seite wechselten, entweder indem sie desertierten oder (wie in seinem Fall) indem sie aus einem russischen Kriegsgefangenenlager rekrutiert wurden. Im Jahr 1917 wurden die Männer in einer Tschechoslowakischen Legion aufgestellt, einem heruntergekommenen, aber unerschrockenen Haufen, der tapfer und geschickt gegen die Deutschen kämpfte. Die Lage wurde um einiges verzwickter, als die Oktoberrevolution gewissermaßen Russland auf den Kopf stellte. Daraufhin zog sich das Land aus dem Krieg zurück und die Legionäre saßen Tausende von Kilometern von ihrer Heimat entfernt mit einem Mal fest. Ihnen blieb nur die Wahl zwischen der Kapitulation oder dem Versuch, sich nach Osten bis zum Pazifik durchzuschlagen. Auf dem Weg bekamen sie es mit lokalen Kriegsherren, Banditen und feindlichen Bolschewiken zu tun. Masaryk bemühte sich nach Kräften, ihnen zu helfen, indem er dem Kommunistenführer Wladimir Lenin das geheime Versprechen abnahm, ihnen sicheres Geleit zu gewähren. Der Handel scheiterte jedoch wenig später an einem Streit um Waffen, und die Männer mussten sich entlang der 8000 Kilometer langen Transsibirischen Eisenbahn von Station zu Station weiterkämpfen.
Als sie die Küste erreichten, entdeckten die Männer zu ihrem Entsetzen, dass die westlichen Alliierten ihnen die Rückkehr in ihre Heimat verweigerten. Stattdessen wurden die erschöpften Krieger angewiesen, kehrtzumachen und einen hastig ausgedachten und schlecht koordinierten Versuch anzuführen, die Bolschewiken zu stürzen. Inzwischen hatte der Winter begonnen, und der Krieg in Europa war gewonnen. Ein weiteres Jahr war die sogenannte Tschechoslowakische Legion in einen multilateralen Konflikt um das Schicksal Russlands verwickelt, an dem sie kein unmittelbares Interesse hatte. Verbündete kamen und gingen, während sich erst die eine Seite der Russen, dann die andere einen Vorteil im Bürgerkrieg verschaffte. Endlich gelang es den Legionären mit Hilfe des US-Militärs abzuziehen. Allerdings mussten viele zuvor die letzten tausend Kilometer bis Wladiwostok zu Fuß zurücklegen.
Dank des rechtzeitigen Eintreffens von Zeitungskorrespondenten war in den Vereinigten Staaten ausführlich über die Heldentaten der Tschechoslowakischen Legion berichtet worden – ein wichtiger diplomatischer Pluspunkt für Masaryk. Als er zu einer Veranstaltung nach New York kam, entdeckte er vor der Public Library eine riesige Karte, auf der man das Vorrücken der Legion beobachten und sehen konnte, wie sie sich ihren Weg zum Pazifik freikämpfte.
In Amerika war die Kampagne für die tschechoslowakische Unabhängigkeit von einer
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