Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Nationalsozialisten die Schlinge allmählich zu. In Böhmen und Mähren waren Juden zwar noch keiner so starken Verfolgung ausgesetzt wie in Berlin oder wie in Kürze in der Slowakei, Juden konnten noch ihre Religion ausüben, und Synagogen waren unbeschädigt, aber diskriminierende Maßnahmen wurden allmählich zur Regel. Juden wurden
aus öffentlichen Ämtern und den freien Berufen vertrieben und mussten in Straßenbahnen ganz hinten sitzen und viele öffentlichen Plätze, Geschäfte und Parks meiden. Ihr Zugriff auf die eigenen Bankkonten wurde eingeschränkt, und Wertgegenstände wurden konfisziert. Ihre Unternehmen wurden beschlagnahmt oder zu lächerlichen Preisen verscherbelt, und die Lebensmittelrationen waren noch spartanischer als die ihrer nichtjüdischen Nachbarn.
Die Öffentlichkeit reagierte unterschiedlich auf diese Maßnahmen. Vielen Tschechen waren sie gleichgültig, aber andere fanden Mittel und Wege, die Regeln zu umgehen. Laut einem Historiker war der deutsche Geheimdienst empört darüber, dass Bekannte, statt Juden zu meiden, »für sie einkaufen gingen … Fleischer verkauften ihr bestes Fleisch nur zu den Zeiten, wenn Juden den Laden betreten durften. … Juden bekamen Hilfe von Ärzten, Anwälten, ihren ehemaligen Beschäftigten, den tschechischen Behörden und manchmal sogar von Gendarmen.« 20 Mitfühlende tschechische Richter urteilten bereitwillig zugunsten von Antragstellern, die erreichen wollten, dass sie oder ihre Kinder für nicht »rein jüdischen Blutes« erklärt wurden – ein Verfahren, bei dem jüdische Frauen häufig fälschlich ein Verhältnis mit nicht-jüdischen Männern gestanden. Als eine verzweifelte Frau ihre beiden »halbjüdischen« Kinder vergiftete, wandten die Nachbarn sich nicht ab. Vielmehr nahmen 4000 Menschen – selbst Vertreter der Stadt – an dem Begräbnis teil.
Der Gemeinde im englischen Exil boten Briefe aus der Heimat kleine Einblicke in derartige Ereignisse. Der Briefverkehr in und aus dem Protektorat funktionierte unregelmäßig. Unter Kriegsbedingungen erreichten viele Briefe niemals ihre Empfänger. Andere wurden mit Hilfe des Schweizer Roten Kreuzes aufgegeben und erst mit monatelanger Verzögerung zugestellt. Meine Eltern erhielten zumindest ein paar Briefe von ihren Eltern, aber es gelang mir nicht, sie aufzutreiben. Deshalb kann ich auch nichts über ihren Inhalt sagen oder wann der letzte Brief kam. Dášas Briefe von ihrer Mutter Greta beinhalten praktische Ratschläge (»Zieh dich warm an«), schildern aber auch ergreifende Szenen:
Milena hat viel geweint, als wir ohne dich heimkehrten. Als ich ihr am Morgen die Haare kämmte, bat sie mich nachzusehen, ob sie graue Haare hatte wegen der Sorgen um dich. Abends geht sie ins Bett und schreit dauernd mit aller Kraft: »Dáša«, »Dáša«, »Dáša«, und glaubt, dass du sie hörst. 21
Im Laufe der Monate kamen weniger Briefe von Greta. Im Jahr 1940 erfuhr Dáša, dass Milena Ski fahren gelernt habe und dass sie ein »echter Schlingel« geworden sei. Sie lerne zwar fleißig, wolle aber im Unterricht nicht still sitzen.
Im Jahr 2011 fragte ich meine Cousine, woran sie sich aus jenen ersten Jahren, als ich noch zu klein war, erinnerte, vor allem was ihre Familie betraf. Sie erzählte mir, ihre Mutter sei zärtlich, aber auch streng gewesen, eine Frau, die glaubte, dass verzogene Kinder es im Leben später schwer haben würden. Sowohl im übertragenen als auch im wörtlichen Sinn war sie der Meinung, einem Kind bringe man das Schwimmen am besten bei, indem man es ins Wasser wirft und schaut, was passiert. Eigentlich hatte Dáša ihrer Schwester Milena das Schwimmen beigebracht, wie sie mir später erzählte.
Dášas Vater Rudolf war ein praktischer Arzt, der unter den Nachbarn so beliebt war, dass andere Ärzte neidisch auf ihn waren. Im Gegensatz zu Greta neigte er zur Nachsicht mit den Kindern und sagte selten ein strenges Wort. Nur einmal machte Dáša ihn richtig wütend:
Unser Haus lag neben einem Wasserlauf, über den eine schmale Fußgängerbrücke führte. Eines Tages wurde eine Freundin von mir namens Vera von einem vorüberfahrenden Lastwagen verletzt. Ihr Vater trug seine Tochter über die Brücke und rief nach meinem Vater, der nicht zuhause war. Aber ich war da. Ich machte die Tür zum Sprechzimmer meines Vaters auf, das im Erdgeschoss unseres Hauses lag, und fing an, Desinfektionsmittel auf die Kratzer und Schürfungen meiner Freundin aufzutragen, wie ich es oft bei
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