Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
fleißige Hände weiter Decken und rollten Verbandspäckchen. Den Kindern fielen manche Opfer schwerer als andere. Die fahrenden Eisverkäufer verschwanden von den Straßen, weil ihre Kühlaggregate für den Transport von Blut bereitgehalten wurden.
Als der Erste Weltkrieg anfing, hieß es, »die Lichter gehen in ganz Europa aus«. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gefühl einer umfassenden Dunkelheit noch durch Maßnahmen verstärkt, um den feindlichen Bombern keine potenziellen Ziele und erhellten Wegmarken zu bieten. In London und den umliegenden Dörfern wurden Fenster bei Nacht mit dicken schwarzen Vorhängen verdunkelt, die sich als stickig erwiesen. Luftschutzwarte sahen in jedem Haus nach, um auch das schwächste verräterische Glimmen zu vermeiden. Aus demselben Grund wurden die Straßenlaternen abgeschaltet, und die Scheinwerfer der Autos verdeckt. Obwohl sie eigentlich Leben retten sollte, hatte die Verdunkelung im ersten Kriegsjahr den entgegengesetzten Effekt. Auf jeden Briten, der von den Deutschen getötet wurde, kamen über Hundert, die im Straßenverkehr starben.
Schon vor der Kriegserklärung hatte man sich wegen einer Invasion Sorgen gemacht. Zusätzlich zu den Maßnahmen des Zivilschutzes wurden Pläne ausgearbeitet, nach denen Kinder und Betreuer aus London und den verwundbaren Küstenregionen in Dörfer im Landesinneren und abgelegene Städte geschickt werden sollten. Es wurden Listen zusammengestellt, und das Land wurde nach freien Schlafräumen durchsucht – eine Aufgabe, die durch den Auszug junger Männer und Frauen in den Wehrdienst erleichtert wurde. Die Kinder mit ihren beigefarbenen Namenschildern fuhren von
Paddington Station ab, jedes mit einem kleinen Bündel aus Dosenmilch, Corned Beef in Dosen, Schokolade und einer Schachtel Woolworth-Kekse. Nachdem sie die leckeren Sachen gegessen hatten, sammelten die Kinder die Metallbehälter zum Recyceln ein. Trotz der sorgfältigen Planung verlief das Evakuierungsprojekt schon bald im Sand. Die Familien waren verständlicherweise aufgebracht, dass sie getrennt werden sollten, vor allem wenn der Feind sich noch nicht einmal gezeigt hatte. Viele Kinder, die London eigentlich verlassen sollten, fuhren nie ab; viele abgereiste kehrten schon bald zurück.
Die Kriegserklärung beschleunigte den Strom tschechischer und slowakischer Flüchtlinge in die britische Hauptstadt. Das von Jan Masaryk eingerichtete Büro entwickelte schon bald die Merkmale einer regelrechten Schattenregierung. Mein Vater erhielt die neue Aufgabe, Rundfunksendungen für Zuhörer in der Heimat zu organisieren und zu leiten: Die Übertragungen begannen am 8. September 1939, nur eine Woche nachdem sich die Wehrmacht den Weg nach Polen freigeschossen hatte. »Die Stunde der Vergeltung ist gekommen«, verkündete Masaryk:
Die Grenzen der Geduld der westlichen Demokratien sind erreicht, und der Kampf zur Auslöschung des Nationalsozialismus hat begonnen. Unser Programm ist eine freie Tschechoslowakei in einem freien Europa, und um dies zu erreichen, sind wir bereit, alles zu opfern. 22
Das Radio hatte in den dreißiger Jahren einen Einfluss, der durchaus vergleichbar war mit dem des Fernsehens oder Internets heute. Zum ersten Mal konnte ein Politiker seine Stimme Tausende von Kilometer weit in die Küchen und Wohnzimmer wildfremder Menschen senden, wodurch eine scheinbar grenzenlose Gelegenheit entstand, Informationen – oder Propaganda – auszutauschen. Für Bürger im Krieg, insbesondere jene, die wegen Rationierungs- und Verdunkelungsmaßnahmen zuhause bleiben mussten, wurde das Radio zum Mittelpunkt des Daseins.
Bild 3
Sendereichweite der BBC während des Krieges
Die Einrichtungen, in denen mein Vater anfing zu arbeiten, befanden sich an der George Street, nicht weit vom Marble Arch. Die BBC stellte ihm genau wie den Polen, Serben und Repräsentanten anderer besetzter Länder zu bestimmten Zeiten ihre Frequenzen zur Verfügung. Die Briten produzierten oder förderten Programme in 16 verschiedenen Sprachen.
Im ersten Kriegsjahr war es Freunden in Prag möglich, mehr oder weniger offen für die BBC-Sendungen zu werben. In der tschechischen Sprache lautet der Kosename für Jan »Honza«, gleichzeitig der Name eines Helden in böhmischen Puppengeschichten, dem es immer wieder gelingt, die österreichischen Behörden zu überlisten. Wenn in den Fenstern Schilder mit dem Hinweis auftauchten, dass heute Abend Die Geschichte von Honza gesendet werde, wussten die Leute
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