Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
verändert werden sollten. Das Melken begann fast buchstäblich mit einer Bestandsaufnahme und Beschlagnahmung der Kühe. Es folgte die deutsche Übernahme jüdischen Besitzes und großer tschechischer Unternehmen wie die
Škoda-Werke, die Schuhfabrik Bata, die Böhmische Union-Bank und die Pumpenwerke Sigmund. Die Masse der Steuereinnahmen aus dem Protektorat floss nunmehr nach Berlin, nicht nach Prag, und jedes funktionsfähige Teil an militärischer Ausrüstung wurde konfisziert, darunter 600 Panzer, 48 000 Maschinengewehre, über eine Million Gewehre und die ganze tschechische Luftflotte.
Hitler hatte die Vision, dass in einem Zeitraum von vielleicht zwanzig Jahren die tschechische Sprache zu einem Dialekt reduziert sein würde und die Menschen, die sie sprachen, nur noch ein paar Bauern mit bunten Trachten und folkloristischen Tänzen, die keine politischen Rechte hatten. NS-Beamte verspotteten Tschechen, die sich über die Schließung der Universitäten beschwerten, und erklärten, dass Angehörige ihrer »Rasse« künftig nur noch eine Grundschulausbildung brauchen würden.
Mit der Zeit trat eine Spaltung innerhalb der Führung des Protektorats zutage. Neurath nahm weiterhin auf lokale Empfindlichkeiten Rücksicht, weil er meinte, die Bevölkerung werde friedlich bleiben, wenn man es ihr gestattete, ihre Traditionen zu pflegen. Sein Stellvertreter Karl Hermann (»K. H.«) Frank hingegen plädierte für eine härtere Linie. Der Sudetendeutsche Frank verachtete die tschechische Kultur und wünschte sich eine unverzügliche Germanisierung der Bevölkerung. In dieser Beziehung gab er die Enttäuschung wieder, die viele aus seiner Region empfanden. Sudetendeutsche Separatisten waren hocherfreut gewesen, als Hitlers Armee einmarschiert war, und hatten angenommen, dass sie auf einflussreiche Posten kommen würden, aber außer Frank galt das nur für wenige. Selbst Henlein, der ungeliebte Führer der Vorkriegszeit, saß in seiner Heimat fest und bekam keinen Posten in Prag. Noch schlimmer: Als der Krieg begann, konnte jeder registrierte Deutsche eingezogen und an die Ostfront geschickt werden. Während tschechische Jugendliche also den Fabriken und Arbeitsprozessen zugeteilt wurden, lagen ihre deutschen Altersgenossen im Schlamm oder wurden erschossen. Das hatte wenig mit dem Sieg zu tun, nach dem sich die Sudetendeutschen so sehr gesehnt hatten.
Den Tschechen wurden zunehmend jegliche Akte wie abschätzige Bemerkungen oder das Ausbuhen deutscher Mannschaften untersagt,
die auch nur entfernt eine gewisse Unabhängigkeit andeuteten. Die Repressionsmaßnahmen schürten jedoch lediglich den Wunsch der Bevölkerung, ihre Bräuche und ihr Vermächtnis zu bewahren. Eine Untergrundzeitung mahnte: »Mit großem Tamtam eröffnen die Deutschen Schulen an Orten, wo es bislang keine gab. Das ist unsere Aufgabe, Frauen! Es liegt in unserer Hand, ob unsere Kinder zu Tschechen oder zu Germanisierten, zu Patrioten oder Verrätern heranwachsen.« 19 Nationalisten hatten lange dafür plädiert, die Schulen für die Etablierung eines Gefühls der kulturellen Solidarität zu nutzen; nunmehr konzentrierten sie sich darauf, wie wichtig es war, zuhause zu lernen. Eltern wurden ermuntert, ihren Kindern die Sprache des Landes, seine Erzählungen, Lieder und eine heroische Version seiner Geschichte beizubringen. Weniger hilfreich in diesem Zusammenhang: Familien wurden angewiesen, die deutschen Ernährungswissenschaftler zu ignorieren, die von einem allzu großen Butterkonsum abrieten. Die Tschechen sahen in diesem gutgemeinten Rat eine Verschwörung, damit ihre Kinder nicht mehr so schöne, rosige Wangen haben.
In der Zeit, als die Nationalsozialisten das Sagen hatten, blieb tschechischen Frauen nur eine Möglichkeit, die Einziehung zu einer Arbeitsstelle zu vermeiden: Sie mussten schwanger werden, und von dieser Option machten sie auch bereitwillig Gebrauch. Ihre Männer waren anders als deutsche Männer vom Schlachtfeld verbannt und standen somit für häusliche Aufgaben zur Verfügung. Außerdem gab es viele Familien, die es für eine patriotische Pflicht hielten, Kinder zu bekommen. Im Krieg heirateten tschechische Paare früher und bekamen jünger Kinder. Die Geburtenrate stieg um 50 Prozent. Womöglich kursierten aus diesem Grund, zum Glück falsche, Gerüchte im Protektorat, deutsche Ärzte hätten vor, einheimische Frauen zu sterilisieren und ihren Babys Gift zu spritzen.
Für jüdische Familien zog sich schon vor Ankunft der
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