Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
meinem Vater gesehen hatte. In diesem Moment kam er nach Hause, schaute nach, was da vorging, packte mich am Kragen und versohlte
mir den Hintern. »Was tust du?«, schrie er. »Du hast doch keine Ausbildung. Weißt du nicht, dass du das Mädchen hättest umbringen können?«
Dáša erzählte mir später, dass sie ohne Religion aufgewachsen und höchstens einmal im Jahr in die Synagoge gegangen sei. Dennoch musste sie in der Schule in die Hebräisch-Stunde gehen und den Tanach studieren. Sie kam mit dem Rabbi gut zurecht, der den Unterricht leitete, und lud ihn einmal, um ihn zu beeindrucken, über die Feiertage zu einem Besuch ein, damit er ihren Weihnachtsbaum bewundern konnte. Das führte zu einem Streit zwischen dem Rabbi und ihrem Vater, der kurzerhand erklärte: »Ich ziehe meine Kinder so auf, wie ich will.«
Die Familie Deiml lebte in Strakonice, einer Stadt mit etwa 20 000 Einwohnern. Vor ihrer Trennung hatten Dáša und Milena jene unzähligen Spiele gespielt, mit denen sich Kinder damals die Zeit vertrieben, als noch die eigene Fantasie und nicht teure Geräte für Unterhaltung sorgen musste: mit Murmeln spielen, Verstecken, Fangen, Reise nach Jerusalem, Blinde Kuh, Himmel und Hölle, Jojo, Seilspringen und Kartenspiele. Kein Kind hätte im Traum daran gedacht, jemanden wegen seiner »Rasse« oder Abstammung auszuschließen, aber die Führer des Protektorats hatten eine Agenda. Milena musste in eine rein jüdische Schule wechseln, wo Kinder aller Altersstufen im selben Klassenzimmer saßen. Diese Schule wurde nach einem Jahr geschlossen, und danach durfte sie gar nicht mehr in die Schule gehen. q Greta schrieb, dass sie jetzt den Platz der kleinen Freunde Milenas einnehmen musste, mit denen ihre Tochter nicht mehr spielen durfte.
Trotz dringender Appelle westlicher Diplomaten (auch aus den Vereinigten Staaten) schwanden allmählich die Möglichkeiten, legal aus dem Protektorat auszureisen. Schon bald kam der Zeitpunkt, an dem das Tor zur Außenwelt ganz verschlossen war.
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DIE LICHTER GEHEN AUS
A m Morgen des 3. September 1939, kurz nachdem Chamberlain seinen Landsleuten mitgeteilt hatte, dass der Krieg begonnen hatte, verirrte sich ein französisches Flugzeug in den britischen Luftraum, löste die Alarmsirenen und eine vorübergehende Panik aus. In den folgenden sieben Monaten war dies, abgesehen von der Eroberung der Kanalinseln durch die Deutschen und ein paar Aufklärungsflügen der Luftwaffe, das ganze Ausmaß der militärischen Handlungen in Großbritannien. Die Franzosen rieten aus Angst vor Vergeltungsschlägen England davon ab, zur Unterstützung der Polen Deutschland zu bombardieren. Die Deutschen waren ihrerseits noch nicht bereit für ein Kräftemessen mit dem Westen. Diese Phase (September 1939 bis zum nächsten Frühjahr) wird »Sitzkrieg« oder »phony war«, wie die Engländer sagen, genannt.
Die Engländer nutzten die Atempause klug. Luftschutzmaßnahmen, die seit mehreren Jahren geübt wurden, wurden jetzt zur täglichen Beschäftigung. Ganze Fabriken wurden in Tarnmaterial in der Form von braun-grünen Netzen gehüllt. Quer durch Parkanlagen im Stadtzentrum wurden Schützengräben im Zickzackmuster ausgehoben, und in Hinterhöfen wurden Luftschutzbunker gebaut, so dass wenigstens komfortable neue Heime für Hunde und andere Haustiere entstanden. Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg hatte zur Folge, dass im ganzen Land Gasmasken verteilt wurden – für Kinder Modelle mit Micky-Maus-Ohren. Praktische Übungen wurden ebenfalls durchgeführt, bei denen Erwachsene und Kinder die Masken überzogen und durch Rauch gefüllte Tunnel aus Zinn krochen. Die Masken sollten in einem Behälter getragen werden, den man sich mit einer Schnur um die Schulter hängen konnte. Allerdings verfing sich die Schnur unweigerlich in Handtaschen, Vesperdosen, Rucksäcken und Türklinken. Eine Zeitlang trugen alle
eine Gasmaske mit sich herum, gegen Kriegsende allerdings kaum noch jemand.
Als der Winter zu Ende ging und der Frühling des Jahres 1940 begann, war überall von einer »Heidenangst« die Rede. Hitler sprach ständig im Radio, aber was wollte er eigentlich? Die Unterhaltungen im Restaurant und beim Friseur wimmelten nur so von Gerüchten über den Termin und genauen Ort des vermuteten deutschen Angriffs. Ängstliche Dorfbewohner suchten mit ihren Ferngläsern den Himmel ab. Kirchen schwiegen, weil das Glockenläuten dem Alarm im Fall einer Invasion vorbehalten wurde. Unterdessen nähten
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