Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Widerstands erheblich ein. Es gab weder Häfen, über die man heimlich Waffen liefern konnte, noch freundliche Grenzer, über die eine sichere Operationsbasis etabliert werden konnte. Untergrundkämpfer hatten vergleichsweise wenig Waffen, verfügten über einen kleinen Munitionsvorrat, kaum Orte zum Verstecken
und wenig Geld. Je länger der Krieg dauerte, desto schwieriger wurde es zu überleben. Außerdem waren so gut wie alle Beteiligten Amateure. Anfangs trug Beneš diesen Einschränkungen kaum Rechnung. In einer Rundfunkrede zwei Wochen nach Kriegsbeginn forderte er den Widerstand auf, dem Gegner unablässig schwere Schläge zu versetzen. Nach Opletals Tod und den anschließenden Hinrichtungen waren seine Äußerungen düsterer, und er warnte vor unnötigen Opfern. Der Präsident hatte keineswegs seine Meinung geändert, dass der tschechische Untergrund den Nazis das Leben schwer machen sollte. Allerdings hatte er erkannt, dass sie, wenn sie »schwere Schläge« austeilen wollten, Hilfe von außen brauchten.
Beneš bei einer Rundfunkrede über die BBC
D as erste Jahr der Besatzung war geprägt von der Spannung zwischen dem Wunsch der Tschechen nach Normalität und ihrem Zorn darüber, dass nichts mehr so war, wie es sein sollte. Für die Mehrheit ging das Leben – bis zu einem gewissen Punkt – weiter wie bisher. Der routinemäßige Tagesablauf änderte sich nicht, auch wenn Lebensmittel knapper wurden, die Lebenshaltungskosten stetig
stiegen und die Ansagen aus den Lautsprechern an den Straßenecken in einer inzwischen verhassten, fremden Sprache ertönten. Die Lebensmittelrationen waren dürftig, aber ausreichend. Tausende junger Männer gingen ins Reich, um die Stellen der deutschen jungen Männer zu übernehmen, die man eingezogen hatte. Im eigenen Land wurde es vielen Tschechen gestattet, ihre Posten in der Regierung zu behalten. Der Eindruck der Routine war auf dem Land am stärksten, wo ein kleiner Junge oder ein Mädchen immer noch ein vergleichsweise sorgenloses Dasein führen konnte. Einer dieser Jungen entwickelte eine Vorliebe für Uniformen. Natürlich waren sie überall präsent: getragen von der Polizei, den Überresten der tschechischen Armee und den verschiedenen NS-Einheiten. Wenn möglich ging der Jugendliche jeden Tag zu einem Laden, in dem Uniformen und Orden im Schaufenster ausgestellt wurden. Er starrte sie an, bis ein Erwachsener ihn am Arm packte und wegzog. In seinem Zimmer zuhause zeichnete er Bilder von dem, was er gesehen hatte, und dachte sich ständig bessere und raffiniertere Kleidung aus. Viele Jahre später, als frisch gewählter Staatschef der Tschechoslowakei, hatte Václav Havel Spaß daran, neue Entwürfe für die Uniformen der Präsidialgarde zu genehmigen.
Bild 38
Zeichnung des jungen Künstlers Václav Havel
Das Kino war von der Besatzung weniger betroffen als viele einschlägige, tschechische Industriezweige. Die Nationalsozialisten übernahmen die Kontrolle über einige Studios, um deutsche Filme zu produzieren, ohne dass sie sich wegen der Bomben der Alliierten Sorgen machen mussten, aber sie erlaubten es den einheimischen Filmemachern auch, ihre Arbeit fortzusetzen. Das am besten ausgestattete Studio in ganz Europa hatten der Vater des jungen Havel und sein Onkel Miloš gegründet, ein bekannter Produzent. Die Deutschen drängten Miloš Havel, einen Film zu produzieren, der König Wenzel in der Rolle des ursprünglichen Kollaborateurs mit den Deutschen zeigte. Havel lehnte ab und brachte stattdessen Božena Němcovás Die Großmutter und andere traditionelle Geschichten auf die Leinwand. Unter anderen arbeitete er mit der Schauspielerin Lída Baarová zusammen, die umstritten war, weil sie in den dreißiger Jahren eine längere Liebesaffäre mit dem NS-Propagandaminister Joseph Goebbels gehabt hatte. Goebbels hatte bereits die Absicht, sich von seiner Frau zu scheiden und die glamouröse Schauspielerin zu heiraten, bis der Patenonkel seiner Kinder – Adolf Hitler persönlich – einschritt. Ein derartiger Skandal, warnte der Kanzler, werde den Ruf der NSDAP ruinieren, die Werte der Familie hochzuhalten.
Die relative Normalität des Lebens fügte sich ausgezeichnet in den langfristigen Plan der NS-Führung ein, die tschechischen Gebiete zu einem integralen Bestandteil des Reichs zu machen. Das sollte schrittweise erfolgen, indem die Ressourcen des Landes gewissermaßen gemolken und nach und nach die »rassische« Zusammensetzung der Bevölkerung
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