Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
kaum jemand nachsehen würde, wie im Innern einer Schaufensterpuppe.
Kuriere wurden angeworben, um Geheiminformationen weiterzugeben und um Flugblätter, Notizen und antifaschistische Literatur zu verteilen. Die Kommission für Presse und Propaganda der Regierung kontrollierte jede legale Zeitung. Dennoch gelang es unabhängigen Publikationen weiterzuarbeiten, insbesondere das Hauptwiderstandsorgan V boj (Im Kampf). Eine geheime Gruppe gab Bücher mit demokratischer Propaganda heraus, die von außen wie gewöhnliche Kriminalromane aussahen. Das verräterische Zeichen stand auf der Rückseite, wo sich der Verleger auf Tschechisch »G. E. Stapo« nannte.
Die Nationalsozialisten hatten keine Erfahrung mit der Kunst der Besatzung, aber sie hatten ein Talent für Repressionen, Unterwanderung und Terror. Ausgestattet mit Listen, auf denen Namen von Verdächtigen aufgeführt waren, hämmerten sie mitten in der Nacht an Türen und holten Tausende aus dem Bett. Die Männer und Frauen, die zum Verhör geholt wurden, brauchten entweder eine wirklich überzeugende Geschichte oder die Fähigkeit, qualvolle Schmerzen auszuhalten. Das Gestapo-Hauptquartier, nicht weit vom Prager Zentrum, lag im gut befestigten Palast Petschek, der zuvor als Bankgebäude gedient hatte. Die Räume mit den Schließfächern, mit ihren fensterlosen Wänden und schweren Türen eigneten sich hervorragend für den Gewahrsam von Gefangenen. Es wurde erbarmungslos gefoltert, und die Anwesenheit einer Guillotine machte jede Drohung überflüssig. Jedes Mal wenn das Mitglied einer Untergrundzelle geschnappt wurde, tauchten alle anderen unter; man ging stets davon aus, dass der oder die Betroffene reden würde. Allerdings gelang es selten, den Widerstand zu überrumpeln. Bis 1943 machte sich eine Gruppe deutschsprachiger tschechischer Polizisten, die von der Gestapo als Übersetzer eingesetzt wurden, ihren Zugang zur Polizei zunutze. Sie meldeten, welche Informationen die Gefangenen preisgegeben hatten, und warnten die Dissidenten, wenn sie überwacht wurden.
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Von den Nazis in Prag genutzte Guillotine
Die meisten großen Netzwerke im Untergrund wurden in einem Krieg, der Zehntausende von Dissidenten das Leben kostete, mindestens einmal zerrissen. Aber bei allem Blutvergießen gelang es den Nazis nie, auch nur annähernd, den Geist der Tschechen oder ihren Widerstandswillen zu brechen. »Wenn die deutsche Autorität im materiellen Sinne unumstritten ist«, schrieb Kennan über eineinhalb Jahre nach Beginn der Besetzung, »so existiert sie in moralischer Hinsicht überhaupt nicht. Welche Macht die Deutschen auch über Personen und Besitz der Tschechen haben mögen, sie haben kaum Einfluss auf ihre Seelen.« 18
Von Anfang an beteiligten sich die Tschechen an symbolischen Protestaktionen wie zum Beispiel einem Boykott der Straßenbahnen. An Hitlers Geburtstag legte man Blumenkränze an der Statue von Jan Hus nieder. Als das Prager Symphonieorchester Smetanas Mein Vaterland aufführte, klatschte das Publikum 15 Minuten lang Beifall. Bis die Aktion verboten wurde, trugen manche Bürger selbstgemachte Abzeichen mit Inschriften wie »Wir werden nie aufgeben« und »Beneš schläft nicht«. Deutsche Beamte, die nach Prag versetzt wurden, stellten häufig fest, dass ihr Telefon nicht funktionierte, dass wichtige Dokumente verlegt worden waren oder dass plötzlich der Benzintank ihres Autos leer war. Am Nationalfeiertag des Landes im Oktober 1939 brachte eine Kundgebung gegen die Besetzung die NS-Wachen so sehr auf, dass sie das Feuer eröffneten und den Medizinstudenten Jan Opletal tödlich verwundeten. p Auf seinem Begräbnis waren Freunde so mutig, die Nationalhymne zu singen. Danach zogen sie durch die Stadt, skandierten patriotische Parolen und rissen deutsche Straßenschilder ab. Als Hitler von den Unruhen erfuhr, forderte er Vergeltungsmaßnahmen. Die Nationalsozialisten verhafteten neun Studentenführer (von denen kein Einziger an der Demonstration teilgenommen hatte), stellten sie an die Wand und erschossen sie. Weitere 1800 Studenten wurden in Gewahrsam genommen und unter grausamen Bedingungen gefangen gehalten, viele junge Männer wurden geschlagen und Frauen vergewaltigt. Zur Strafe für die lokale Intelligenzija schloss der »Führer« die tschechischen Universitäten und Hochschulen für die Dauer des Krieges.
Die geographischen Bedingungen schränkten, fast ebenso sehr wie die deutschen Maßnahmen, die Möglichkeiten des tschechischen
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