Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
behandeln. Das Ganze wurde durch den Umstand erleichtert, dass im Lager rund 500 Ärzte inhaftiert waren, wenn auch viele bereits betagte darunter. Dem Gesundheitssystem mangelte es an Medikamenten, und es war von der Nachfrage chronisch überfordert, aber die Überlebensquote bei schweren Krankheiten wie Scharlach und Diphtherie lag immerhin deutlich über 90 Prozent. Das Lager profitierte ferner von der chirurgischen Ausrüstung, die man aus den inzwischen geschlossenen, jüdischen Krankenhäusern des Protektorats beschafft hatte. Tausende von Zahn-, Augen- und anderen Operationen wurden durchgeführt.
So sah es aus in Theresienstadt, als Rudolf Deiml, seine Frau Greta und die kleine Milena am 26. November 1942 gemeinsam mit dem größten Teil der jüdischen Bevölkerung von Strakonice eintrafen. Auf der Fahrt war es eiskalt gewesen. Laut einer Nachbarin war der Schnee so schwer, dass »die meisten Menschen ihre Pakete nicht mehr tragen konnten und sie, eins auf dem anderen, am Straßenrand abstellten. … Im Eisenbahnwaggon waren die Sitze mit einer dünnen Eisschicht bedeckt.« 36 Immerhin, mit seinen 52 Jahren war Rudolf besser als sein Schwiegervater gerüstet, um die Unbill des kalten Wetters und der Bedingungen in Theresienstadt zu überleben. Er war außerdem ein kontaktfreudiger Mann mit den Fertigkeiten eines Arztes, die man immer brauchte. Greta hoffte ihrerseits, ihre Zeit mit der Pflege der Kinder zu verbringen.
Ich kann mir nur ausmalen, welche Gefühle meine Tante und meinen Onkel bewegten, als sie ihre vertraute Umgebung gegen die Unwägbarkeiten von Theresienstadt eintauschten; das gilt auch für die gemischten Gefühle, mit denen Großmutter Olga sie empfangen haben dürfte. An jedem beliebigen Ort wäre sie gewiss hocherfreut
gewesen, aber sie und insbesondere Milena als Gefangene zu sehen, dürfte große Angst und Trauer ausgelöst haben.
Doch sie hatten keine andere Wahl. Nicht lange danach beaufsichtigte Rudolf die Gesundheitsfürsorge in einer Baracke für Frauen und kleine Kinder. Greta war zwar von ihrem Mann getrennt, bekam aber Milena regelmäßig zu Gesicht, weil sie eingeteilt wurde, sich um die Mädchen in dem Zimmer neben dem ihrer Tochter zu kümmern. Wie die meisten waren die Zimmer völlig überfüllt: 40 oder mehr Kinder hausten in jedem. Greta und andere Frauen spielten mit den Mädchen und achteten darauf, dass sie sich wuschen und jeden Morgen ihre Betten machten. Die Mahlzeiten, die in riesigen Kesseln zubereitet wurden, bestanden aus wässriger Suppe, ein paar Kartoffelstückchen, altem Brot und gelegentlich einem Löffel Marmelade.
Inmitten der Verwahrlosung dürften sich Olga, Greta und Milena gegenseitig unterstützt haben. Theresienstadt war jedoch der Feind selbst des kleinsten Trostes. Unter den Kindern brach eine Typhusepidemie aus, rund 125 von ihnen wurden im Januar und weitere 400 im Februar infiziert. Die Eltern hatten große Angst. Selbst die Deutschen machten sich wegen der Ansteckungsgefahr Sorgen. Ein prominenter NS-Arzt wurde eigens aus Prag gerufen, um die Krise zu analysieren. Himmler, der seinen Besuch angekündigt hatte, stellte auf einmal fest, dass er dringende Geschäfte anderswo erledigen musste.
Es wurden hektische Anstrengungen unternommen, den Seuchenherd aufzuspüren. Die Küche der Kinder stand im Verdacht, aber von den Insassen, die dort arbeiteten, war kein einziger krank. Die Opferzahl stieg weiter an. Die zwölfjährige Helga Weissová schrieb in ihr Tagebuch: »Lilkas Schwester ist gestorben. Lilka selbst hat auch Bauchtyphus. Vera, Olina und Marta sind auf der Krankenstation. Milča ist gestern in die Hohenelbe-Kaserne gebracht worden. Sie soll schon in Agonie liegen.« 37
Zwei erwachsene Frauen, die sich um die Kinder kümmerten, steckten sich ebenfalls an. Eine war meine Tante Greta Deimlová. Sie starb nach zehntägiger Krankheit am 15. Februar 1943.
Somit hatte Milena keine Mutter mehr, die nach ihr sah, und ihr Vater war noch bei den Kasernen der Männer untergebracht. Gemäß Vorschrift wurde sie einem dreistöckigen Haus mit der Bezeichnung L-410 zugeteilt, das etwa 360 Mädchen im Alter von acht bis achtzehn Unterkunft bot, von denen die Mehrzahl Tschechinnen waren. Dort lernte sie einen neuen Tagesablauf kennen. Der Tag begann um 7 Uhr morgens. Die aufgeweckten Mädchen rannten als erstes ins Badezimmer, damit sie nicht Schlange stehen mussten. Auf die Hände kam unter den wachsamen Augen einer älteren Frau ein
Weitere Kostenlose Bücher