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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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Arnošt wurde gemeinsam mit anderen Männern in die Baracke einer ehemaligen Kaserne geschickt. Olga sollte in einem Haus mit der Bezeichnung L-304, das für Frauen vorgesehen war, einen Platz
finden. Der Einzug muss ein traumatisches Erlebnis gewesen sein, weil die Räumlichkeiten hoffnungslos überfüllt waren.
    Den ganzen Sommer über waren Züge eingetroffen – aus dem Protektorat nur wenige, dafür unzählige aus Deutschland und Österreich. Unter den deutschsprachigen Deportierten befanden sich jene, die selbst die Nazis nicht einfach umbringen konnten, ohne dass sie lästige Fragen beantworten mussten: Juden, die mit prominenten Persönlichkeiten des Reiches bekannt waren, die sich in der Wirtschaft, Kunst und den freien Berufen einen Namen gemacht hatten oder die im Ersten Weltkrieg für ihre Tapferkeit im Kampf für das Vaterland ausgezeichnet worden waren. Unter ihnen fanden sich ehemalige Regierungsbeamte, Barone, Gräfinnen, Sänger, Schauspieler, die Enkelin von Franz Liszt, die jüngere Schwester von Franz Kafka, der Sohn von Oskar Strauss und die ehemalige Schwägerin von Thomas Mann. Die Flut der Neuankömmlinge ließ die Zahl der Häftlinge von 21 000 im Juni auf 51 000 im August anschwellen  – das Zehnfache der vertretbaren Kapazität des Lagers. Der Zustrom erhöhte auch das Durchschnittsalter der Insassen um 15 Jahre.
    Viele deutsche Neuankömmlinge hatte man dazu gebracht, einen Vertrag zu unterschreiben, der ihnen Zugang zum »Kurort« garantierte, wo ihnen ein Leben mit allem Komfort, reichlichen Mahlzeiten und Zimmer mit schöner Aussicht versprochen wurde. Stattdessen wurden sie von brüllenden Wachen empfangen, das Gepäck wurde ihnen abgenommen, zum Essen bekamen sie einen widerlichen Fraß vorgesetzt, und sie wurden in Baracken voller Ungeziefer einquartiert. Binnen weniger Wochen wurden aus Zimmern für vier Personen Depots für zwanzig, dann vierzig, zuletzt sechzig. Dreistöckige Betten erstreckten sich von Wand zu Wand und vom Boden bis zur Decke, wobei sich zwei Insassen eine Matratze teilten. Als die bewohnbaren Räume allesamt belegt waren, wurden die Häftlinge in fensterlose Dachkammern, Keller mit schmutzigen Fußböden und verdreckten Ersatztoiletten und Vorratsräumen gezwängt. Der Mangel an Essutensilien wurde durch den Mangel an Lebensmitteln bei weitem übertroffen. Im Juli waren die Abwasserrohre verstopft. Es gab nicht annähernd genügend sauberes Wasser.
Privatsphäre war ein Fremdwort. Die Lebensbedingungen erzeugten eine massive physische und psychische Belastung, vor allem für jene, die vom Alter, durch Krankheit oder Verzweiflung bereits geschwächt waren. Anstelle von Ordnung herrschte hier das reine Chaos.
    Bild 47
    Schlafplatz in Theresienstadt
    Gerty Spies, die Tochter eines wohlhabenden Berliner Kaufmannes, kam am 20. Juli nach Theresienstadt, zehn Tage vor Arnošt und Olga Körbel. Sie schrieb:
    Nachdem man unser Handgepäck ausgeraubt hatte, wurden wir durch den Ort geführt. Unbegreiflich! Wo war das Altersheim, das Wohnheim, von dem man uns gesprochen hatte? Wo waren die sauberen Häuser, wo jeder sein eigenes wohl eingerichtetes Zimmer haben sollte? … Man brachte uns ins Quartier. Aber hier konnte man doch nicht leben! Es war ein Schuppen in einem Hinterhof … Im Schuppen war nichts. Kein Möbelstück, kein Ofen, kein Herd – nur der Fußboden, das Dach und die Fetzen, die von den Wänden hingen. …
Jedem Menschen war ein Lebensraum von sechzig Zentimetern Breite zugeteilt. Die Länge des Platzes reichte aus, um mit hochgezogenen Knien zu schlafen. Für diese große Gemeinde gab es zwei Toiletten im Haus. 35
    Der »Ältestenrat« des Ghettos hatte schon früh beschlossen, bei den Essensrationen und der Unterbringung die junge Generation zu bevorzugen, weil man es für das Beste hielt, die Überlebenschancen derjenigen zu erhöhen, deren Potenzial, die Zukunft zu gestalten, am größten war. Die Entscheidung kann man durchaus vertreten, doch die Sterbeziffer unter der älteren Bevölkerung war hoch. Wegen der Überfüllung breiteten sich ansteckende Krankheiten (Lungenentzündung, Typhus, Tuberkulose) rasch aus. In Theresienstadt gab es keine Gaskammern, weil es kein Vernichtungslager war. Dennoch war es eine Mördergrube, denn alle, die angeblich eines natürlichen Todes starben, kamen allein wegen der unmenschlichen Lebensbedingungen um. Der Friedhof war begrenzt, und das vorhandene Holz für Särge ebenfalls. Folglich wurde ein

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