Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
schwitzen wie Schweine? Mej-Fa-Su. Protektion auf Schritt und Tritt? Mej-Fa-Su. Alles wird als Faktum akzeptiert, das zwar unangenehm, aber unabänderlich ist. Es gibt hier Protektion? Was kann man machen? Protektion ist doch etwas so Unabänderliches, so selbstverständlich wie die Umdrehungen der Erde und die Anziehungskraft. So war es früher, so wird es wieder sein. Mej-Fa-Su! 41
Im Ghetto herrschte unablässig Hunger, und ein unsäglicher Dreck – eine Gelegenheit zum Wäschewaschen bekam man allenfalls alle sechs Wochen. Häufig sah man Männer auf dem Weg zum Krematorium, wie sie Karren voller menschlicher Leichen zogen. Dieselben Karren wurden für den Transport der Brotlaibe benutzt. Am schlimmsten erging es den Alten. Weil sie eine geringere Ration erhielten und häufig keine Familie hatten, die ihnen von draußen Pakete schickten, hielten sie sich gerade noch so weit am Leben, dass sie auf der Suche nach Essbarem durch das Lager schlurften. Das war ein Bild von geschrumpften Menschen, wandelnde Skelette, die Haut von Wunden bedeckt. Sie waren außerstande, sich selbst zu säubern oder sich vernünftig mit einem zu unterhalten. Den Ghettobewohnern muss ein derartiges Dasein schlimmer als der Tod erschienen sein.
Die große Unsicherheit, die drohend über den Lagerinsassen hing, bestand in den mysteriösen Transporten nach Osten, die anfingen, dann aufhörten, und wiederum von neuem begannen. Nicht einmal der »Judenrat« wusste Genaueres darüber, wann die Züge fuhren, ebenso wenig wussten die Mitglieder, wohin die Reise ging. Allerdings wurde gemeinhin angenommen, dass Arbeitslager im weitesten Sinne das Ziel waren. Die realistischeren Gefangenen begriffen sehr wohl, dass, was immer sie am Zielort erwarten würde, vermutlich schlimmer war als Theresienstadt. Wer sich einen schlimmeren Ort nicht vorstellen konnte, meldete sich freiwillig zu den Transporten, vor allem wenn liebe Angehörige bereits den Weg angetreten hatten.
Die Deutschen waren zwar fest entschlossen, die »Endlösung« durchzuziehen, wollten sie aber nach Möglichkeit geheim halten. Bis zum Ende blieben sie dabei, dass sie die Gefangenen an Orte schickten, wo die Insassen hoffen durften, zu überleben und sogar als Familie zusammenzuleben. Im Allgemeinen war es ihnen gleichgültig, welche Juden in einen Zug stiegen – allerdings wurden eine Zeitlang mit »Ariern« verheiratete Personen und jene, die deutsche Auszeichnungen aus dem Krieg hatten, verschont. Mit dem typischen Sadismus überließen die Nazis den »Ältesten des Judenrates« die Entscheidung, wer gehen musste. Sie gaben lediglich die Zahl der Deportierten vor, ob sie jung oder alt sein sollten, oder ob sie eine bestimmte handwerkliche Fertigkeit oder Nationalität haben mussten.
Die Auswahl der Opfer brachte die jüdischen Führer in ein schreckliches moralisches Dilemma. Namen wurden hinzugefügt, dann wieder durchgestrichen, nach so subjektiven Kriterien wie ideologische Neigung, familiäre Bindungen, Sprache, Nationalität und Ausmaß der persönlichen Not. Jedes Mal, wenn eine Ausnahme gemacht wurde, musste ein anderer Gefangener seinen oder ihren Platz einnehmen. Am verwundbarsten waren verwaiste Kinder, die keinen hatten, der sich für sie einsetzte. Die Macht, die der Rat ausübte, sorgte unweigerlich für Ärger. Die Mitglieder hatten bequemere Unterkünfte, vollere Speisepläne und sauberere Kleider; außerdem befanden sie sich in einer Position, in der sie Freunden helfen konnten. Insassen sprachen verächtlich von der Bedeutung der Vitamine B (Beziehungen) und P (Protektion). Gonda (Egon) Redlich, das für die Jugendlichen zuständige Ratsmitglied, klagte: »Die Ältesten werden niemals einwilligen, auch nur ein Jota von ihren Rechten zu streichen.« z Dann stellte er die Frage: »Ist ein Mann, der die doppelte Portion Essen bekommt, befugt, einen Dieb zu richten, der lediglich eine Portion erhält, wenn dieser versucht, sich eine zweite aus der Küche zu nehmen?« 42
Wie sollte man an so einem Ort den Unterschied zwischen richtig und falsch erkennen? Die damals 17-jährige Vera Schiff arbeitete im Krankenhaus. Eines Nachts stürzte ein bekannter Chirurg mit einem Bündel im Arm herein. Vera zog die Decke zurück und entdeckte ein neugeborenes Kind, das sie auf Flehen des Arztes hin umbringen sollte. Die Mutter des Säuglings war nur wenige Tage zuvor in Theresienstadt angekommen und hatte es bislang geschafft, ihren Zustand zu verbergen. Auf eine Entbindung
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