Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
im Lager stand die Todesstrafe. Der Arzt kannte die Mutter und wollte ihr Leben retten, aber dem Neugeborenen Schaden zuzufügen, würde den Eid des Hippokrates verletzen. Er bereitete eine Spritze vor und flehte Vera an, sie dem Baby zu injizieren. Ihre Reaktion:
Auch wenn ich durch keinen Eid gebunden war, war es mir unmöglich, in aller Ruhe die Spritze zu nehmen, das Baby zu spritzen und wegzugehen. Wir waren beide ganz aufgelöst von dem bewussten Akt, ein Leben auszulöschen, selbst das Leben eines Babys, das dem Verderben geweiht war, selbst wenn es darum ging, das Leben der Mutter zu retten. Wir wechselten einen schmerzerfüllten und verlegenen Blick. Dann fing der Junge zu schreien an, was Dr. Freund die Haare zu Berge stehen ließ. Kalt und gepresst stieß er hervor, dass wir es zusammen tun würden. Bevor ich etwas erwidern konnte, packte er meine Hand, presste die Spritze hinein und drückte mit seiner Hand um meiner gewaltsam die Nadel in den Oberschenkel des Babys. 43
Nach den amtlichen Unterlagen hatte das Kind nie existiert. Der Arzt hatte seinen Eid verraten und ein unschuldiges Mädchen in das Verbrechen hineingezogen, nur um das – in seinen Augen – Richtige zu tun. Doch die Schuld trifft gewiss nicht jene, die gezwungen waren, derartige Entscheidungen zu fällen, sondern diejenigen, die Umstände herbeigeführt haben, in denen so schwierige Entscheidungen getroffen werden mussten.
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DEN BOGEN ÜBERSPANNT
Die verhängnisvolle Entscheidung Hitlers, in Russland einzumarschieren, hatte seine Truppen mit den gleichen drei unbeugsamen Kriegern – Oktober, November und Dezember – konfrontiert, die vor mehr als einem Jahrhundert Napoleons Große Armee in die Knie gezwungen hatten. Im Januar 1943 ergab sich die deutsche 6. Armee nach dem Scheitern der langen und erbitterten Belagerung Stalingrads den sowjetischen Streitkräften. Alliierte Truppen bereiteten sich, nachdem sie in der nordafrikanischen Wüste endlich die Oberhand gewonnen hatten, darauf vor, Hitler von Süden her, über Sizilien und die Apenninenhalbinsel unter Druck zu setzen. Churchill und Roosevelt schworen bei einem Treffen in Casablanca, die bedingungslose Kapitulation Deutschlands zu fordern. In England besserte sich allmählich die Stimmung, trotz der weiterhin geltenden Verdunkelung. »Hitler und sein Pack jammern derzeit«, schrieb eine Frau aus einem Dorf in der Nähe von Coventry, »und wir – na ja, uns geht es jetzt viel bessah!« 44
Beneš war ebenfalls optimistisch. »Unser Anliegen ist international bestätigt«, sagte er seinen Beratern. »Unsere Exilregierung ist von allen demokratischen Ländern anerkannt worden. Wir haben einen Bündnisvertrag mit Großbritannien; wir haben den französisch-tschechoslowakischen Vertrag mit de Gaulle erneuert. Die alliierten Mächte haben das Münchener Abkommen für null und nichtig erklärt. Die Zeit ist gekommen, mit der Sowjetunion einen Vertrag zu unterschreiben.« 45
Ein festes Band zu Moskau zu knüpfen, war ein wesentlicher Bestandteil in Beneš’Nachkriegsstrategie. München wäre nie geschehen, argumentierte er, wenn die Briten gegenüber den Sowjets weniger misstrauisch gewesen wären. Wenn sein Volk sicher sein wollte, musste die Partnerschaft zwischen Russland und dem Westen weiterhin
Bestand haben. Gewiss, das sowjetische Regime war totalitär, aber das war doch zu erwarten angesichts der zaristischen Tradition des Landes. Ein längerer Kontakt mit dem Westen zeigte mit Sicherheit eine liberalisierende Wirkung, ein Prozess, den die Tschechoslowakei mit ihren demokratischen Werten beschleunigen konnte. Ob sich diese Hoffnung nun erfüllen sollte oder nicht, Beneš war fest überzeugt, dass sein Land einen starken Partner brauchte. Selbst nach der Niederlage waren Deutschland, Ungarn und Österreich noch eine Gefahr, sie würden die Tschechoslowakei umzingeln und bedrohen. Beneš hatte kein Vertrauen mehr in die Versprechungen des Westens; man musste auf jeden Fall Moskau den Hof machen.
Die Aussicht auf eine derartige Romanze sorgte in Großbritannien für wenig Aufregung. Das Foreign Office machte sich um die Zukunft der Tschechoslowakei keine allzu großen Sorgen, aber Polen, ein viel größeres Land mit einer Exilarmee von 200 000 Mann, stand im Brennpunkt des Interesses. Wenn die Sowjets und Tschechen einen Separatfrieden vereinbarten, wo würden dann die Polen bleiben? Genau wie Beneš wollten auch die polnischen Politiker die Vorkriegsgrenzen ihres
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