Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
erwischt zu werden, gab es noch Tunnel, die man für heimliche Treffen nutzen konnte; y junge Zionisten schnitzten in der Dachkammer einer Bäckerei einen Hohlraum, um dort ein auf BBC eingestelltes Kofferradio zu deponieren; und Garten- und Küchenarbeiter fanden Mittel und Wege, um Lebensmittel in ihren Kleidern zu verstecken. Einer zwölfjährigen Landarbeiterin gelang es, eine einzige Kirsche zu entführen, die sie stolz ihren Eltern schenkte. Ihr Vater, der ehemalige Leiter der medizinischen Versorgung am jüdischen Krankenhaus von Prag, schnitt die Frucht sorgfältig in drei gleich große Teile.
Jeder zwischen 16 und 65 Jahren war verpflichtet zu arbeiten, sofern er oder sie physisch dazu imstande war. Die Insassen wurden angewiesen, in Bergwerken oder auf dem Bau zu schuften, Ackerbau zu treiben oder Vieh zu hüten, deutsche Militäruniformen zu flicken und Glimmer zur Isolierung in Elektrogeräten in hauchdünne Streifen zu spalten.
Am Ende des Jahres 1942 hatte das Leben in Theresienstadt allmählich einen einzigartigen Charakter angenommen. Die Deutschen hatten alles in ihrer Macht Stehende getan, um den Juden ihre Würde zu rauben, und die elenden Bedingungen hatten mit Sicherheit einen darwinistischen Effekt auf das Verhalten. Wer sich rasch anpasste und lernte, sich bei anderen einzuschmeicheln und Proviant zu beschaffen, überlebte am längsten, doch mitten in dem Schrecken und Tod entwickelte sich auch ein verblüffend vielfältiges Leben.
Obgleich sie bei Null angefangen hatten, waren die jüdischen Verwalter des Ghettos imstande, ein rudimentäres System öffentlicher Dienstleistungen nach und nach zu verbessern, etwa die Stromversorgung, sanitären Anlagen, Sicherheit, Recht. Auch was
die Unterkunft betraf, so hatten sie aus der Not zumindest das Beste gemacht. Mit Blick auf die Bildung hatten die Deutschen im Protektorakt gespottet, dass die Tschechen – in ihrer schönen neuen Welt – keine praktische Verwendung für eine Schulbildung über das achte Schuljahr hinaus hätten, während Juden überhaupt keine Bildung bräuchten. Gemäß dieser Logik wurden akademische Kurse in Theresienstadt verboten, doch die Sehnsucht der Gefangenen zu lernen und zu unterrichten war stärker als jedes Verbot. Welche Sprache die Insassen auch bevorzugten, sie hatten große Hochachtung vor Wissen; viele waren Gelehrte, manche genossen sogar weltweit für ihre Sachkenntnis großes Ansehen. Der Pool an qualifizierten Dozenten und Lehrern war gewaltig.
Obwohl der Unterricht jederzeit unterbrochen werden konnte, wurden in der Regel mehrere Stunden täglich in Schlafräumen, Kellern, Dachkammern oder was immer zur Verfügung stand abgehalten. Ein Posten sollte vor nahenden SS-Männern warnen. Im Fall einer Inspektion wussten die Schüler geschickt ihre Unterrichtsunterlagen zu verstecken und so zu tun, als würden sie eine erlaubte Aktivität ausüben, wie Singen, Zeichnen oder Putzen der überfüllten Zimmer.
Aber Wissenschaft und Bildung war in Theresienstadt nicht nur eine Therapieform. Die eingesperrten Kinder zählten zu den gebildetsten im ganzen Reich. Die Kinder in Prag, Wien oder Berlin lernten nur das, was die deutschen Behörden für notwendig hielten. Die Erzieher in Theresienstadt hatten nichts mehr zu verlieren. Wenn jeder Unterricht illegal war, warum sollen wir die Kinder dann nicht in der Geschichte des Judentums, griechischen Ethik, Moralphilosophie und der Dichtung Heinrich Heines unterrichten? Warum sollen wir nicht Zirkel organisieren, die in die Tiefen der russischen und lateinischen Sprache eintauchen? Warum widmen wir die Abende nicht kulturellen Veranstaltungen wie Vorlesungen, Dichtkunst, Theaterstücken und Liedern, die nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Hebräisch und Tschechisch vorgetragen werden? Warum ergötzen wir uns nicht an Stücken, die auf Scholem Alejchems Erzählungen von Tewje dem Milchmann basieren?
Vor allem in den ersten beiden Jahren hatten alle noch Hoffnung, dass zumindest die Kinder überleben würden. Aber selbst als
dieser Optimismus allmählich schwand, wurden die Unterrichtsstunden mit unvermindertem Eifer fortgesetzt. Einem todgeweihten Kind moralisches Verhalten beizubringen, ist an sich bereits eine moralische Entscheidung – noch dazu eine überaus mutige.
Die Gesundheitsfürsorge bildete ebenfalls ein Paradoxon. Dort, tief im Tal der Schatten, wurden heldenhafte Anstrengungen unternommen, um Infektionen vorzubeugen und Wunden und Erkrankungen zu
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