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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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Spritzer Lysol. Ihr unablässiger Wahlspruch lautete: »Nach dem Stuhlgang, vor dem Essen Hände waschen nicht vergessen.« 38
    Anschließend wurden die Betten gelüftet und die Laken ausgeschüttelt  – ein im Großen und Ganzen vergeblicher Versuch, den Befall von Wanzen und Läusen zu verhindern. Als Nächstes folgte der namentliche Appell und die Verteilung der Aufgaben: putzen, flicken, Lebensmittel abholen, Besorgungen machen. Einige Mädchen gehörten einer Organisation namens Yad Oseret an (»Helfende Hand« auf Hebräisch). Sie meldeten sich freiwillig, um älteren Häftlingen beim Tragen zu helfen, ihnen Gedichte zu rezitieren und Geburtstagsfeiern zu gestalten.
    Vor und nach dem Haushalt war reichlich Zeit für Unterrricht. Milena war unter den Kindern, die von einer 44-jährigen ehemaligen Schülerin Paul Klees, Friedl Dicker-Brandeis, unterrichtet wurden, die in den dreißiger Jahren aus Wien nach Prag gezogen war. Dort hatte sie ein Malstudio für Kinder geleitet. In Theresienstadt zählten die Mädchen aus L-410 zu ihren Schülerinnen.
    »Man musste bei ihr nicht gut zeichnen können«. erinnerte sich Helga Weissová. »Das war nicht das Wichtigste für sie. Es kam darauf an, sich zu entfalten, sehen zu lernen. Farben zu erkennen. Mit Farben zu spielen.« Dicker-Brandeis brachte den Kindern bei, nach Geschichten, Wünschen, Ideen, selbst nach auf den Tisch geklopften Rhythmen zu malen. »Mal gab sie ein Thema vor«, heißt es in dem Erinnerungsband Die Mädchen von Zimmer 28, »ein Tier in einer Landschaft oder Sturm/Wind/Abend; mal skizzierte sie in kurzen
Sätzen eine phantastische Geschichte. Manchmal sagte Friedl nicht mehr als: ›Male, wo du jetzt sein möchtest.‹« 39
    Bild 46
    Zeichnung von Milena Deimlová
    In Theresienstadt war nichts einfach. Dicker-Brandeis sprach vor allem Deutsch; Malzubehör und Papier waren Mangelware. Dennoch produzierten die Kinder mehr als 4000 Bilder mit Buntstiften, Kreide und Wasserfarben; unter den Motiven fand sich so gut wie alles außer dem, was nicht erlaubt war: das reale Leben in Theresienstadt. Viele Illustrationen sind erhalten; als das Ghetto befreit wurde, fand man in einem der Kinderzimmer ein paar Koffer, jeder vollgestopft
mit Bildern, darunter viele von Milena. Nach dem erhaltenen Material malte meine Cousine gerne Porträts, Züge, Häuser, Kinderwagen und unzählige Tiere wie Hunde, Schweine, Pferde und Kamele. Die Sonne ist fast immer zu sehen, mal lacht sie, mal nicht. Heute ist eine Auswahl der Kunstwerke der Kinder aus Theresienstadt im Jüdischen Museum in Prag ausgestellt.
    Gleich um die Ecke von L-410 befand sich das Gebäude L-417, ein ehemaliges Schulgebäude, das man zu einem Wohnheim für tschechische Jungen umgewandelt hatte. In diesem Haus entstand eine der bemerkenswerteren literarischen Kreationen Theresienstadts. Jede Woche stellten die Bewohner mehrere Zeitschriften zusammen, darunter auch Vedem (Wir führen). Da Kopieren ausgeschlossen war, wurde nur ein einziges Exemplar produziert. Jeden Freitagabend versammelten sich die Jungen, um ihre Beiträge laut vorzulesen. Die Auswahl enthielt Gedichte, Satiren, Aufsätze über die Gefängnisverwaltung und Interviews mit so berühmten Persönlichkeiten des Ghettos wie dem Koch, dem Chefingenieur, der Krankenschwester oder dem Polizeichef. Der Chefredakteur war Petr Ginz, ein vermutlich frühreifer 15-jähriger Sohn einer katholischen Mutter und eines jüdischen Vaters. Den von einem unersättlichen Hang zur Selbstverbesserung besessenen Ginz sah man fast jeden Abend im Schneidersitz auf der Koje, um sich ein Chaos von schriftlichen und malerischen Beiträgen.
    Eine kurze Zeit führte Ginz ein Tagebuch, in dem er versprach, sich stärker dem Zeichnen, Buchbinden, der Steigerung des eigenen Gewichts, dem Studium des Buddhismus, dem Linolschnitt, der Stenographie, Englisch, Russisch, Plato und Balzac zu widmen. Was das Führen eines Tagebuchs angeht, so hatte er gewisse Bedenken. »Ich erkläre verbindlich, Tagebuch schreiben ist Unsinn, weil man Dinge hineinschreibt, die jeder für sich behalten soll, und so gaffen einem ungebetene Bestien hinein.« 40
    In einem Beitrag, den Ginz für Vedem schrieb, verglich er die Haltung vieler in Theresienstadt mit einer mandschurischen Redewendung: »Mej-Fa-Su!« – »Da kann man nichts machen«:
    Mandschurier gibt es nicht nur in der Mandschurei. Auch hier gibt es von dieser Sorte mehr als genug. Wir sind in Theresienstadt? Mej-Fa-Su. Wir

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