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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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Stalin hatte geglaubt, die Deutschen würden es nicht wagen, ihn anzugreifen. Hitler sah sich selbst als Erfüller des Schicksals. Beneš, das Oberhaupt eines kleinen Landes inmitten einer gefahrvollen Umgebung, wollte gerne an Stalins Fähigkeit glauben, sich intellektuell und moralisch zu bessern. Deshalb betrachtete er den Vertrag, den er ausgehandelt hatte als Meilenstein in der diplomatischen Geschichte seines Landes. Er behauptete, dass der Vertrag die Sicherheit der Tschechoslowakei garantiere, die Sowjetunion davon abhalten werde, sich in die inneren Angelegenheiten des Landes zu mischen, und ein Vorbild für die Beziehung zwischen der UdSSR und dem übrigen Mitteleuropa schaffen werde. Das waren hohe Erwartungen.
    Zu seiner Verteidigung muss man sagen: Beneš wusste genau, dass nach der Niederlage in Stalingrad Hitlers beste Chance zu überleben darin bestand, die Alliierten zu spalten. Folglich verlagerte sich die NS-Propaganda verstärkt auf die Vorstellung, die Zivilisation vor den »Bolschewisten« zu retten. Beneš fürchtete, dass sämtliche antikommunistischen Leidenschaften die westliche Einheit im letzten Stadium des Krieges untergraben würden. Er hielt es für wichtig, dieser Stimmung entgegenzuwirken, indem er Stalins Vertrauenswürdigkeit verteidigte und die Vision einer Zukunft entwarf, in der der Westen den Osten nicht zu fürchten brauchte. Das war eine vernünftige, strategische Denkweise, vorausgesetzt, Beneš ließ sich nicht allzu sehr von seinen eigenen Worten blenden.

20
VERWEINTE AUGEN
    Sommer 1943. Aus dem Keller des Mädchenwohnheims in Theresienstadt (L-410) war inzwischen ein Probenraum für Konzerte und Theaterstücke geworden. Die Bewohner, unter ihnen meine zehnjährige Cousine Milena Deimlová, fanden häufig Zeit, nach unten zu gehen und zuzuhören oder zuzuschauen. Hier übte der Mädchenchor, und hier entstanden die Inszenierungen von Die verkaufte Braut, Die Zauberflöte und Die Hochzeit des Figaro. Einige Mädchen aus L-410 traten auch in der Aufführung des Brundibár, einer Kinderoper, auf. Dieses in Prag geschriebene Werk war dort im vorangegangenen Winter von einer Gruppe jüdischer Waisenkindern aufgeführt worden. Als der Komponist und viele Sänger sich in Theresienstadt wiederfanden, ließen sie das Schauspiel von neuem aufleben und probten in der Dachkammer von L-417, dem Wohnheim der Jungen. Das Libretto der Oper handelt von einem Rätselwettstreit zwischen einem bösen Drehorgelspieler (Brundibár) und einem Paar armer Geschwister, die an Straßenecken singen, um Geld für ihre bettlägerige Großmutter zu sammeln. Mit der Hilfe einiger musikalisch begabter Tiere tragen die Kinder am Ende den Sieg davon. Das Schlusslied »Brundibár ist besiegt« war unter den vielen Häftlingen besonders beliebt, die zwar von Brundibár sangen, aber dabei an Hitler dachten. Von September an wurde die Oper 55 Mal aufgeführt, stets vor vollem Haus.
    Wie eine Oase in der Wüste belebten Kultur und Malerei die Ghettolandschaft. Es gab ständig ein Angebot an Vorträgen, Lesungen und Theaterstücken, während musikalische Darbietungen lediglich dem Mangel an funktionierenden Instrumenten Tribut zollen mussten. Trotz ihres körperlich anstrengenden Tagewerks sehnten sich die Bewohner nach Zerstreuung. Schon relativ bescheidene Schauspielertruppen verteilten Einladungen, so dass die Besucherzahl
nicht die Kapazität ihres »Theaters« überschritt. Auf so einer Einladung hieß es etwa: »Der Putzdienst … hat das Vergnügen, Sie zu einem Kabarettabend am 12. Januar 1943, um 20 Uhr, im Kartoffelschälraum von HK [Hamburger Kaserne] einzuladen.« 54
    Bild 49
    Gerty Spies, eine Gefangene, die in glücklicheren Zeiten das Kulturleben Berlins in allen seinen Facetten gekostet hatte, schrieb dazu:
    Allmählich schossen die Darbietungen wie die Pilze aus dem Boden, wurden vielgestaltiger, komfortabler – auch fürs Publikum. Es gab schon Abende, an denen man, wenn man früh kam … auf rohen Bänken sitzend hören und genießen konnte.
Man hatte die Auswahl: Konzerte, Theater (ohne Kulisse natürlich), Reisebeschreibungen, wissenschaftliche und literarische Vorträge, Balladenabende und wer weiß, was sonst noch alles. 55
    In der repressiven Atmosphäre war jeder Versuch, die Trennlinie zwischen Kunst und Politik zu überschreiten, äußerst riskant. Da die tschechischen Künstler in einer Sprache und Kultur zuhause waren, die den Besatzern weitgehend fremd blieben, waren sie

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