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Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)

Titel: Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine K. Albright
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Unterstützern von Institutionen wie die Vereinten Nationen zählen, die dazu dienen sollen, die Rechte und Souveränität aller Staaten zu schützen. Im Jahr 1943 konnte sich Beneš allerdings nicht darauf verlassen, dass die UNO für die Zukunft ein Erfolgsmodell würde; er hatte erst kurz zuvor das Scheitern des Völkerbundes miterlebt. Vielmehr musste er sich mit der Realität abfinden, dass der Erhalt eines kleinen Staates häufig zumindest eine begrenzte Abhängigkeit von einer Großmacht erfordert. Im Falle der Tschechoslowakei war noch mehr erforderlich: eine Freundschaft mit der UdSSR, die der Westen nicht als Bedrohung empfinden würde, und zugleich eine freundschaftliche Beziehung zum Westen, gegen die Russland keine Einwände hatte.
    Nachdem Beneš beschlossen hatte, nach Moskau zu fahren, musste der Präsident ein entsprechendes Band zum Westen knüpfen  – und dabei dachte er nicht nur an seine ambivalente Beziehung zu den Briten. Selbst ein nicht ganz so aufmerksamer Beobachter der Politik wie Beneš hat damals gewusst, dass die Vereinigten Staaten nach dem Krieg auch in Europa einen größeren Einfluss ausüben würden als die überstrapazierten Behörden in England. Er wollte in
Washington auf keinen Fall Missverständnisse aufkommen lassen und hielt es deshalb für angebracht, sich nochmals vorzustellen und Regierungsvertretern in der Hauptstadt seine Absichten zu erläutern. Da er noch nie über den Atlantik geflogen war, nahm er seinen ganzen Mut zusammen, schrieb ein neues Testament und ging an Bord eines Flugzeugs mit Kurs nach Westen.
    Bild 18
    Beneš und Roosevelt, Washington, D.C., 1943
    Als Beneš vier Jahre zuvor in die Vereinigten Staaten gekommen war, war er der abgesetzte Staatschef eines zerfallenden Landes gewesen. Jetzt herrschte Krieg, und er war ein wichtiges, wenn auch kein führendes Mitglied der Alliierten. Am 12. Mai 1943 wurde er mit militärischen Ehren im Weißen Haus empfangen. Bei einem Empfang auf dem Rasen vor dem Amtssitz des Präsidenten spielte eine Marinekapelle ihre Version der tschechischen Hymne »Wo ist meine Heimat?«, und nach einem feierlichen Staatsbankett unterhielt er sich bis 2 Uhr morgens privat mit Präsident Roosevelt.
    Den Worten eines amerikanischen Geheimdienstberichtes zufolge hielt FDR die Vision seines Besuchers für das künftige Europa für »ziemlich interessant«. Beneš sah »eine russische Einflusssphäre in Osteuropa voraus und … [eine zweite] in Westeuropa unter der
Führung Englands«. 46 Er bot sich selbst Roosevelt als ein Mann an, der als Kurier zwischen Moskau und westlichen Hauptstädten fungieren könnte. Er machte auch seinen Wunsch nach einer Freundschaft mit Stalin deutlich und wies darauf hin, dass sein Land und die Sowjetunion künftig Nachbarn sein würden. Deshalb sei es unvermeidlich, dass die Sowjets in der Nachkriegsära großen Einfluss haben werden. Beneš versicherte den Amerikanern, dass die Tschechen, auch wenn sie ein slawisches Volk seien, von ihrer Kultur her im Grunde westlich seien. Sie würden sich nicht den Kommunisten unterwerfen, sondern freundliche Beziehungen zu beiden Seiten anstreben.
    In einem Sieg des Pragmatismus über das Prinzip einigten sich die beiden Männer darauf, dass Polens Versuch, der Sowjetunion die Schuld an den Morden im Wald von Katyn zu geben, unklug sei und dass die territorialen Forderungen des Kremls in Polen respektiert werden müssten. Roosevelt ermunterte seinen Gast, enge Beziehungen zu Russland zu knüpfen, und fragte, ob er sich ebenfalls mit Stalin treffen solle. Nach einem langen Meinungsaustausch, in dem sie auch über Frankreich, die Nachkriegsordnung und die Zukunft Deutschlands sprachen, bat Beneš eindringlich um die amerikanische Unterstützung bei seinem Ziel, nach Kriegsende die Sudetendeutschen aus dem tschechoslowakischen Staatsgebiet zu vertreiben. Implizit erhielt er von Roosevelt auch eine Zusage.
    In den folgenden Tagen traf sich Beneš mit mehreren Einwanderergruppen, führte lange Gespräche mit führenden Vertretern der Legislative und hielt eine Rede vor einer gemeinsamen Sitzung des Kongresses, in der er sein Land als »Patenkind der Vereinigten Staaten« bezeichnete. Darüber hinaus sprach er vor begeisterten Zuhörern in New York, Detroit und Chicago. Er reiste in die unlängst umbenannte Stadt Lidice im Staat Illinois und nahm dort an einer sehr emotionalen Zusammenkunft teil. Vor der Abreise teilte Harry Hopkins ihm mit, dass »Roosevelt Ihren

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