Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
Deiml und Milena Deimlová. Voller Angst bereiteten sich die drei auf die Abreise vor. Die folgenden Ereignisse lassen sich nicht genau rekonstruieren, aber womöglich gibt eine von Gonda Redlich geschriebene Notiz wichtige Hinweise. Darin erklärte der Jugendleiter dem Rat, dass Milenas Mutter während der Typhusepidemie gestorben sei, als sie sich um die Kinder kümmerte und dass das Mädchen seither an Tuberkulose leide. Die Tatsache, dass Rudolf in Theresienstadt als Arzt dringend gebraucht wurde, mag ebenfalls zu der Gnadenfrist beigetragen haben. Jedenfalls wurden ihre Namen von der Liste gestrichen.
Am 6. September 1943 verließen über 5000 überwiegend tschechischsprachige Häftlinge Theresienstadt, und im Dezember folgte eine ihnen vergleichbare Zahl. Die Passagiere dieser Transporte fuhren zwar nach Auschwitz, durchliefen aber nicht den üblichen Selektionsprozess, also die Einteilung in arbeitsfähige Häftlinge und in jene, die sofort in die Gaskammern geschickt wurden. Stattdessen wurden sie in das benachbarte Birkenau umgeleitet, wo mit den Gefangenen aus Theresienstadt ein sogenanntes »Familienlager« eingerichtet wurde. Es handelte sich um die angeblich humane Einrichtung, die Himmler der Welt präsentieren wollte. Kinder erhielten ihren eigenen Spielbereich und bekamen halbwegs anständiges Essen. Neben körperlich schweren Arbeiten mussten die Erwachsenen Stoffe weben und Kleider anfertigen. Nach einiger Zeit war auch dieses Lager überfüllt. Um Platz zu schaffen, wurden am 8. März 1944 die Häftlinge des Septembertransportes, die die ersten sechs Monate überlebt hatten, zu einer Scheinarbeitseinheit gerufen. In dieser Nacht wurden über 3700 tschechische Juden ermordet, der
weitaus größte Massenmord an Tschechen während des ganzen Krieges.
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Selektion in Auschwitz, 1944
Einmal mehr bemühte sich der polnische Untergrund, die Morde bekannt zu machen. Allerdings vergingen drei Monate, bevor zuverlässige Berichte die Exilregierung in London erreichten. Mit der Nachricht kam auch eine Warnung, dass die Nazis die Absicht hatten, Überlebende aus dem Transport vom Dezember am 20. Juni zu liquidieren, wenige Tage später. Das Radioteam meines Vaters strahlte den Bericht sofort aus, gemeinsam mit einem Schwur, alle und jeden zu bestrafen, die für künftige Morde die Verantwortung trugen. Die Gestapo reagierte, indem sie ihre Pläne auf Eis legte und den Gefangenen im Familienlager befahl, Postkarten mit dem Datum 21. Juni nach Theresienstadt zu schicken.
Im Oktober 1943 kamen die ersten von mehreren Gruppen dänischer Juden im Ghetto von Theresienstadt an. Ihr Empfang verlief anders als der aller übrigen Deportierten und sollte sich als Test für die Fähigkeit der Nationalsozialisten erweisen, andere zu täuschen. Dänemark hatte ein lehrreiches Beispiel dafür gegeben, was passiert,
wenn man dem Bösen die Stirn bietet. Unter der NS-Besatzung hatten sich König Christian X. und die Dänen geweigert, zu Komplizen zu werden. Auf einen Tipp hin, dass Eichmann die Absicht hatte, die rund 8000 Juden des Landes zu deportieren, war es dem dänischen Untergrund gelungen, 90 Prozent von ihnen aus dem Land zu schmuggeln oder zu verstecken. In jenem September hatten Eichmanns Leute und deutsche Polizeieinheiten die Übrigen zusammengetrieben und nach Theresienstadt geschickt. Statt die Niederlage zu akzeptieren, erkundigten sich König Christian und das dänische Rote Kreuz regelmäßig nach dem Wohl der Gefangenen, überschütteten sie geradezu mit Postkarten und Lebensmittelpaketen und verlangten, dass es einer internationalen Delegation erlaubt werde, ihre Lebensbedingungen zu inspizieren.
Es dauerte viele Monate, bis ein Termin für den Besuch des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) gefunden wurde, und er wurde immer wieder von den Nazis verschoben. So hatte Himmler Zeit, ein Trugbild des Vorzeigeghettos zu schaffen, das er so prahlerisch angepriesen hatte. Zahllose Zwangsarbeiter standen ihm ohnehin zur Verfügung. Dazu brauchte er dafür nur etwas Farbe, Baumaterial, Ausrüstung für einen Spielplatz und das Vertrauen in den Wunsch der meisten Menschen, das zu glauben, was sie glauben wollten. Arbeiter wurden angewiesen, einen neuen Konzertsaal zu bauen, das Postamt und die Bank zu sanieren, die umgestaltete Cafeteria mit weißen Tischtüchern und Blumen zu schmücken, einen Pavillon für Kinder mitsamt Sandkästen und Schaukeln zu errichten. Die Künstler wurden
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