Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
aufgefordert, ihre Fantasie einzusetzen und Bilder von dem angeblich sorgenfreien Leben im Ghetto zu malen. Das neue Theresienstadt hatte eine Apotheke, eine Bäckerei, einen Musikpavillon, Schaufenster voller attraktiver Waren, einen schönen Konferenzsaal, verbesserte Unterkünfte und eine neue Schule mit dem Schild: »Wegen Ferien geschlossen«.
Am 19. Juni 1944 erhielt das Rote Kreuz die Erlaubnis, in vier Tagen eine Inspektion durchzuführen. Die Delegation bestand aus zwei Dänen und einem Schweizer, Maurice Rossel, der die Berliner Filiale des IKRK repräsentierte. Selten war ein so großer Aufwand betrieben worden, um so wenige Menschen zu beeindrucken. Die
jüdischen Führer wurden darauf gedrillt, was sie sagen durften und was nicht. Die Kinder setzte man vor Lampen, damit ihre der Sonne entwöhnte Haut dunkler wurde. Um das Potenzial störender Vorfälle möglichst gering zu halten, wurden die meisten dänischen Insassen aus dem Blickfeld geschafft. Man vermutete, dass sie weniger eingeschüchtert waren und deshalb die Wahrscheinlichkeit größer war, dass sie die Wahrheit sagten. Wegen der Überfüllung wurden kurzerhand 5000 weitere Gefangene nach Auschwitz deportiert, darunter viele Versehrte und Kranke.
Am 23. Juni, um 10 Uhr morgens, traf die Delegation in einer Limousine aus Prag ein. Jeden Schritt des sechsstündigen Besuchs hatte man zuvor sorgfältig einstudiert. In der Bank bekamen die Besucher Schlangen von Kunden zu sehen, die darauf warteten, ihre Geschäfte zu erledigen. In der Wäscherei wuschen lächelnde Frauen Kleider von bester Qualität. Im Speisesaal stopften die Insassen großzügige Portionen von gebratenem Fleisch, Gemüse und Kuchen in sich hinein. Im Freien machten sich junge Frauen, fröhlich lachend mit dem Rechen auf der Schulter, auf den Weg zur Arbeit im Feld. Als die Delegation an einem Fußballspiel vorbeiging, brachen die Zuschauer aufgrund eines Tores in Jubel aus. Die Besucher kamen gerade noch rechtzeitig in den Konzertsaal, um das Finale der Oper Brundibár zu sehen. Wohin sie auch blickten, sahen sie in ihre Partie vertiefte Schachspieler, alte Leute, die sich ein Konzert anhörten, Jugendliche, die munteren Schrittes unterwegs waren. Wenn sie genauer Acht gegeben hätten, wäre ihnen womöglich aufgefallen, dass die gleiche Karawane gut gekleideter Kinder im Lauf des Tages gleich mehrmals an ihnen vorbeigetrieben wurde.
Inspektor Rossel hatte einen Fotoapparat nach Theresienstadt mitgebracht, mit dem er drei Dutzend Bilder machte. Im Zuge meiner Recherchen für dieses Buch bekam ich Gelegenheit, mir diese Bilder anzusehen, und blieb an einem Bild prompt hängen. Auf dem Foto stehen Kinder in einer kleinen Gruppe und schauen in die Kamera. Unter ihnen ist ein Mädchen, das seinen Arm freundschaftlich ihrer Nachbarin um die Schulter legt. Mir kam nicht nur das Gesicht des Mädchens bekannt vor, sondern auch ihr Kleid. Das letzte Foto von Milena mit ihren Eltern, das ich besitze, war im Jahr 1941 aufgenommen worden. Auch wenn eine hundertprozentige Identifizierung nicht möglich ist, sieht es ganz so aus, als sei meine Cousine unter den Kindern gewesen, die man an jenem Junitag gezwungen hatte, durch Theresienstadt zu ziehen.
Bild 37
Kinder in Theresienstadt, 1944, während des Besuchs des IKRK
Bild 51
Milena Deimlová, 1941, mit ihren Eltern
Das IKRK hatte der Delegation zwei Listen mit Fragen mitgegeben, die sie bei ihrem Besuch prüfen sollte. In erster Linie betrafen sie den Umgang mit den Hilfspaketen. Gemäß ihrer humanitären Zielsetzung hätte die Organisation gerne ein zuverlässiges Verzeichnis der Personen, die im Ghetto leben, bekommen, die Zulieferung der Post erleichtert und eine Garantie gewünscht, dass Lebensmittel, Arzneien und Kleidung auch wirklich bei den vorgesehenen Empfängern ankamen. Während des Krieges führte das IKRK über 11 000 Besuche in Lagern durch, in denen Gefangene interniert wurden. Um die Gefahr eines Täuschungsmanövers zu verringern, bestand die Organisation in der Regel darauf, unter vier Augen mit Insassen zu sprechen. In Theresienstadt war davon keine Rede.
Während des ganzen Besuchs waren deutsche Vertreter, darunter ein enger Mitarbeiter Eichmanns, in der Nähe, um die Gespräche zu überwachen. Die Insassen hatten keine Gelegenheit, ungehindert zu sprechen. Die dänischen Vertreter stellten dennoch Anzeichen für eine gespannte Atmosphäre fest. Sie fragten einen Insassen, wie lange er denn bereits in dem
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