Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
vernünftigen Rat und Ihr Urteil zur europäischen Politik sehr schätze. Auch wenn er selbst aufmerksam die europäische Politik verfolge, könne er nicht alle Details kennen und würde es schätzen, in ständigem Kontakt zu bleiben.« 47 Bei der Rückkehr nach England war Beneš zufrieden
darüber, dass Roosevelt sowohl seine politische Linie billigte als auch seine Rolle schätzte. Er hatte das Gefühl, dass er in die Sowjetunion reisen konnte, ohne eine Entfremdung seiner demokratischen Freunde fürchten zu müssen.
A m Abend des 23. November trat Beneš eine ereignisreiche Pilgerreise in den Osten an. Wie Tomáš G. Masaryk im Ersten Weltkrieg besuchte er Russland, um die Unabhängigkeit und Freiheit seines Landes zu erreichen. Wegen der schlechten Witterung konnte sein Flugzeug nur bis zu der malerischen Hafenstadt Baku am Kaspischen Meer fliegen. Von dort aus begann eine viertägige Bahnfahrt durch den Kaukasus und Südrussland nach Moskau. Während die Landschaft vorüberzog, hatte der Präsident Gelegenheit, sich das wenige anzuschauen, was noch von den Städten und Dörfern übrig geblieben war, welche die volle Wucht der deutschen Invasion zu spüren bekommen hatten. »Ich fuhr … an zerstörten Höfen, Eisenbahngleisen und Bahnhöfen, Brücken und Straßen vorüber«, schrieb er später, und an »endlosen Halden aus zerstörten Panzern, Mannschaftswagen, Flugzeugen, Eisenbahnwagen und allen möglichen Waffen. In einer wunderbar klaren Nacht fuhr ich durch Stalingrad und sah die unvorstellbare Zerstörung, die die Deutschen angerichtet hatten; demolierte Häuser, von denen nur noch die vier Grundmauern übrig waren, die wie erhabene und warnende Finger in den Himmel ragten.« 48
Beneš glaubte, er befinde sich auf einer Mission von historischer Bedeutung, und wollte deshalb unbedingt mit Neuigkeiten zurückkehren, die seine Reise bestätigten. Dieser Drang sowie fehlende Aktivposten für die Verhandlungen und die Entscheidung, ohne hohe Berater zu reisen, machten ihn zu einem leicht zu gängelnden Gast für die Sowjets. Es war auch nicht gerade hilfreich, dass sich Zdeněk Fierlinger, sein Botschafter in Moskau, weniger um die Verteidigung tschechoslowakischer Interessen kümmerte, als darum, sich bei der sowjetischen Führung einzuschmeicheln.
Nach einem Empfang mit den höchsten Ehren durch den Kreml führte Beneš weitreichende Gespräche mit Stalin, gefolgt von einer VIP-Tour durch Fabriken, wissenschaftliche Institute, militärische
Einrichtungen und Theater. Wie viele Besucher in Moskau ließ er sich dazu verleiten, das sowjetische System in möglichst gutem Licht zu sehen, nicht zuletzt deshalb, weil er sich unter Freunden fühlte. Wo immer er hinging, stieß er auf hart arbeitende Menschen, die scheinbar den Kommunismus vergötterten und – im Gegensatz zu den Londonern – über die missliche Lage der Tschechen Bescheid wussten. Er war regelrecht beeindruckt von der Fähigkeit der UdSSR, trotz der schweren Schläge, die sie erlitten hatte, einen raschen Wiederaufbau zu organisieren. Die Rote Armee hatte allein in der Schlacht um Stalingrad eine halbe Million Mann verloren. Er betrachtete es auch als Verdienst der Revolution, dass sich das Land von einer Nation analphabetischer Bauern zu einer modernen Industriegesellschaft gewandelt hatte. »Masaryk wollte nicht akzeptieren, dass das sowjetische Regime Bestand haben würde«, bemerkte er gegenüber einem seiner Berater. »Ich frage mich, was er jetzt gesagt hätte. Ein Regime, das den Lebensstandard von 90 Prozent der Bevölkerung verbessern kann, wird sich zwangsläufig halten. Genau das wollen viele im Westen nicht wahrhaben.« 49
Bild 19
Beneš und Stalin, Moskau, 1943
Beneš war überzeugt, dass sich Länder ebenso wie ihre Führer durch die Ereignisse verändern konnten. Er sah eben diese Entwicklung an Stalin und Russland. In seinen Augen setzte sich der starke Mann der Sowjetunion ganz für den Sieg über Deutschland und dessen Zerstückelung ein – Ziele, die auch für die Tschechoslowakei Vorrang hatten. In Anbetracht des bescheidenen Ausmaßes seiner eigenen Nachkriegsambitionen war Beneš sicher, dass der Geist der Kooperation anhalten werde. Er versicherte den Sowjets, dass seine Regierung, sobald sie wiedereingesetzt sei, die auswärtigen Beziehungen in einer Weise leiten werde, die für sie völlig akzeptabel sei und die eine enge, ja vertraute, wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit umfasse. Er bat Moskau
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