Winter in Prag: Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg (German Edition)
gegenüber deutschen Künstlern im Vorteil. Wenige Monate vor Kriegsende wurde eine zweite Kinderoper aufgeführt, dieses Mal auf der Basis von Glühwürmchen (tschechisch: Broucci), einem bekannten Märchen. Die Zuschauer hörten voller Freude, dass die tschechische Nationalhymne diskret in die Partitur eingeflossen war. Karel Schwenks Satire Der letzte Radfahrer wurde ebenfalls in Theresienstadt geschrieben. Sie erzählt die Geschichte eines Diktators, der den Radfahrern die Schuld an allen Problemen seines Landes gibt. Der Tyrann weist jeden aus dem Land, der nicht beweisen kann, dass seine Vorfahren seit mindestens sechs Generationen schon Fußgänger sind. Ein unerschrockener Radfahrer lehnt sich dagegen auf und wird in einen Käfig gesteckt, wo er von der lokalen Bevölkerung verspottet wird. Wie im Brundibár siegt am Ende das Gute.
Die Nazis raubten den Insassen ihre Freiheit, aber nicht die Fähigkeit zu denken – und zwar über weit mehr als nur über die Schrecken ihrer Lage. In dem Gefängnis lebten Menschen, die voller Begeisterung Gedanken über Sprachwissenschaft, Botanik, Anthropologie, Theologie, Literatur – so gut wie alles – austauschten. Der wohl beliebteste Redner war Leo Baeck, ein 70-jähriger Reform-Rabbiner aus Berlin, der Gespräche über »Philosophische Denker von Plato bis Kant« anbot. Der würdige und redegewandte Baeck inspirierte seine Umgebung, die Selbstachtung zu bewahren. Selbst als sein Körper wegen der Unterernährung immer schwächer wurde, trug er weiter Anzug und Krawatte und pflegte sorgfältig seinen Bart. Kein Mensch dürfe jemals nur zu einer Nummer werden, sagte er dem Vernehmen nach. Vor Gott müsse man sich verneigen, aber vor dem Menschen aufrecht stehen. 56
Baeck wurde wegen seiner Gelehrtheit, moralischen Integrität und Courage bewundert (vier Schwestern von ihm starben in Theresienstadt). Er hatte jedoch ein Geheimnis. Ein Flüchtling aus einem Arbeitslager in Polen hatte ihm Informationen über die Gaskammern in Auschwitz zukommen lassen. Damit war klar, dass für die meisten Gefangenen die Berufung zu einem Transport der Todesstrafe gleichkam. Nach einiger Überlegung beschloss Baeck, dieses Wissen nicht mit den anderen zu teilen, weil er seine Mithäftlinge nicht noch mehr demoralisieren wollte und weil es immer noch möglich war zu überleben, wenn man zu einem Arbeitstrupp ausgewählt wurde. Seither streiten sich Gelehrte darüber, welches der richtige Umgang mit diesem Dilemma war: sagen oder nicht sagen.
Als die Alliierten im Dezember 1942 gegen die NS-Verbrechen an den Juden protestierten, beriefen sie sich auf Berichte von Massenhinrichtungen in den Gefangenenlagern in Polen. Himmler bestritt, dass derartige Massaker überhaupt stattfänden. Mit gespielter Empörung forderte er die Medien und das Rote Kreuz auf, ein Arbeitslager sowie die »Mustersiedlung« in Theresienstadt zu inspizieren. Bevor das Ghetto jedoch Besucher empfangen konnte, waren natürlich ein paar Vorbereitungen nötig.
Zunächst mal blieb die Gefangenenzahl konstant. Auf Reinlichkeit wurde großen Wert gelegt, um die Gesundheitsrisiken zu verringern. Das Essen wurde genießbarer. Neue Brunnen wurden gegraben und ein Abwasserrohr verlegt. Den Häftlingen wurde Zeit gegeben, um ihre Wohnräume zu verschönern. Kinder und Teenager durften Fußballmannschaften aufstellen. Straßen, die bislang nur mit Buchstaben und Zahlen bezeichnet wurden, erhielten jetzt wohlklingendere Namen: L-1 wurde zur Seestraße, obwohl es weit und breit keinen See gab.
Diese willkommenen, wenn auch weitgehend kosmetischen Veränderungen wurden im Juli 1943 unterbrochen, als die Buchführung der Gestapo einen Büroraum forderte, der vor alliierten Bombenangriffen sicher war. Mehrere tausend Gefangene wurden aus ihrer Unterkunft vertrieben, darunter mein Onkel Rudolf Deiml und ein Freund, Jiří Barbier, ein gelernter Zimmermann. Gemeinsam gelang
es ihnen und einigen Helfern, neue Quartiere für sich zu bauen, komplett mit einem Tisch, vier Stühlen, einem Schrank und einem kleinen Ofen.
Aber nicht jeder war Zimmermann von Beruf. Die Vertreibung durch die Buchhalter hatte zur Folge, dass die Unterkünfte wiederum überfüllt waren. Auf Himmlers Befehl hin hatte man die Transporte sieben Monate lang ausgesetzt, aber jetzt kam die Information, dass im September ein weiterer Konvoi, und zwar ein sehr großer, abgehen werde. Auf der Liste potenzieller Passagiere standen auch Olga Körbelová, Rudolf
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