Winterjournal (German Edition)
Fall deines Schwiegervaters zusätzlich die schlimme Zeit als junger Infanterist im Zweiten Weltkrieg (die Schlacht von Luzon, die Philippinen, der Dschungel von Neuguinea), aber du hast ja ein Leben lang Erfahrungen in der Kunst der Kommunikation mit verschlossenen Männern gesammelt, und wenn dein Schwiegervater auch in manchem deinem Vater ähnelt, spürst du doch, dass er über einen größeren Vorrat an Wärme und Empfindsamkeit verfügt, dass er weniger rätselhaft ist, als dein Vater es war, ein zugänglicherer Vertreter des Menschengeschlechts. Du bist sechsundvierzig oder siebenundvierzig Jahre alt, in ausgezeichneter physischer Verfassung, noch jugendlich in der Mitte deiner mittleren Jahre, und da man dich als
guten Fahrer
kennt, hat die weibliche Fraktion auf der Rückbank absolutes Vertrauen in deine Fähigkeit, sie unbeschadet nach Northfield zu bringen, und da sie dir vertrauen, machen ihnen die potenziellen Gefahren des Unwetters keine Sorgen. Tatsächlich führen die drei während der ganzen Fahrt lebhafte Gespräche über alles Mögliche, als sei dies ein milder Hochsommerabend, wohingegen dir und deinem Schwiegervater, schon als du den Motor startest und vom Haus deiner Schwägerin wegfährst, mehr als bewusst ist, dass euch ein Höllenritt bevorsteht, dass die Wetterverhältnisse nicht nur schlecht, sondern schier unmöglich sind. Als du auf den Highway gelangst und die I- 35 nach Süden hinunterfährst, prasselt der Schnee auf die Windschutzscheibe, und obwohl die Wischer mit Volldampf arbeiten, siehst du so gut wie nichts, denn zwischen jedem Hin und Her der Wischer deckt der Schnee die Scheibe jedes Mal gleich wieder zu. Der Highway ist nicht beleuchtet, aber die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos strahlen die auf dich zupeitschenden Schneeflocken an, sodass du keinen Schnee mehr siehst, sondern Myriaden blendender Lichtpunkte. Und das Schlimmste, die Straße ist glitschig, so glatt und vereist wie ein Schlittschuhteich, und bei einem höheren Tempo als zwanzig oder dreißig Stundenkilometer würden die Reifen nicht mehr am Boden haften und die Bremsen nutzlos werden. Alle fünfzig oder hundert Meter siehst du links und rechts Autos, die von der Fahrbahn gerutscht sind und halb umgekippt in riesigen Schneewehen stecken. Dein Schwiegervater, der sein ganzes Leben in Minnesota verbracht hat, ist mit den Risiken einer Fahrt bei solchem Wetter nur zu gut vertraut, und während du den Wagen im Schneckentempo durch die Nacht steuerst, späht er auf dem Kopilotensitz nicht weniger konzentriert als du in die Wolken glitzernder Schneeflocken, die unablässig auf die Windschutzscheibe prasseln, macht dich auf Kurven aufmerksam, beruhigt und bestärkt dich, fährt im Kopf mit dir mit, in allen Muskeln seines Körpers, und so kommt ihr, du und der alte Soldat vorne, die Frauen hinten, nach einer Fahrt von zwei Stunden statt der gewöhnlichen dreißig oder vierzig Minuten endlich in Northfield an, und als ihr fünf das Haus betretet, reden und lachen die Frauen immer noch, und nur dein Schwiegervater, der weiß, was für eine Zerreißprobe du hinter dir hast, denn auch für ihn war die Fahrt eine Zerreißprobe, klopft dir auf den Rücken und zwinkert dir zu. Fünfzig Jahre nachdem er seine Uniform an den Nagel gehängt hat, hat der Sergeant dir die Ehre bezeigt.
Weihnachtsessen in Northfield, Minnesota, alljährlich seit 1981 bis zum Tod deines Schwiegervaters im Jahre 2004 , wonach das Haus verkauft wurde, deine Schwiegermutter eine kleine Wohnung bezog und die Tradition den neuen Umständen angepasst wurde. Aber fast ein Vierteljahrhundert lang war diese Mahlzeit bis in die letzte Einzelheit durchorganisiert, kein Detail war anders als im Jahr davor, nur die Tischgesellschaft, an der du zum ersten Mal 1981 teilnahmst – anfangs sieben Personen: deine Schwiegermutter und dein Schwiegervater, deine Frau, ihre drei Schwestern und du selbst –, erweiterte sich von einem Jahr zum andern, als die jüngeren Schwestern deiner Frau heirateten und eigene Kinder bekamen, sodass am Ende dieses Vierteljahrhunderts neunzehn Personen um den Tisch herum saßen, die sehr Alten und die Alten, die Jungen und die sehr Jungen. Hier ist festzuhalten, dass Weihnachten am Abend des Vierundzwanzigsten gefeiert wurde, nicht am Vor- und Nachmittag des Fünfundzwanzigsten, denn obgleich die Familie deiner Frau im tiefsten Amerika lebte, war und ist sie doch eine skandinavische Familie, eine norwegische Familie, und
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