Winterjournal (German Edition)
heute noch ist. Erstens: weil sie es nicht fertigbrachte, etwas aufzugeben, das sie angefangen hatte. Hier ging es um Standhaftigkeit und Stolz. Zweitens: weil sie eine Frau war. Nichts dagegen einzuwenden, dass du dein Studium nach einem Jahr abgebrochen hattest, du warst schließlich ein Mann, und Männer beherrschen die Welt, und eine Frau, die einen akademischen Titel trägt, verschafft sich ein wenig Achtung in dieser Männerwelt und wird nicht so von oben herab behandelt wie eine Frau, die keinen solchen Titel trägt. Drittens: weil sie es gern tat. Die Konzentration und Disziplin intensiver Forschungsarbeit hatte ihren Verstand geschärft und ihr Denken verfeinert, und selbst wenn sie die Zukunft hauptsächlich mit dem Schreiben von Romanen verbringen würde (mit dem ersten hatte sie bereits angefangen), hatte sie nicht die Absicht, ihr intellektuelles Leben nach dem Erwerb des Doktorgrades aufzugeben. Diese Debatten hast du vor über fünfundzwanzig Jahren mit ihr geführt, aber schon damals schien sie einen Blick in die Zukunft zu werfen und die Konturen dessen zu sehen, was auf sie zukam. Seither: fünf Romane veröffentlicht, ein sechster in Arbeit, dazu vier Sachbücher, hauptsächlich mit Essays, Dutzenden von Essays mit einem enormen Themenspektrum: Literatur, Kunst, Kultur, Politik, Film, Alltagsleben, Mode, Neurowissenschaften, Psychoanalyse, Erkenntnisphilosophie und Phänomenologie der Erinnerung. 1978 war sie eine von hundert Studenten, die an der Columbia das Doktorandenstudium anfingen. Sieben Jahre später war sie eine von drei, die bis zum Ende durchgehalten hatten.
Mit der Hochzeit hast du auch in die Familie deiner Frau eingeheiratet, und da ihre Eltern immer noch in dem Haus lebten, in dem sie aufgewachsen war, ging dir nach und nach ein bis dahin fremdes Land in Fleisch und Blut über: Minnesota, die nördlichste Provinz im ländlichen oberen Mittelwesten. Nicht das platte Land, das du dir vorgestellt hattest, sondern eine wellige Gegend mit kleinen Kuppen und steilen Kurven, keine Berge oder Felsformationen, dafür aber Wolken in der Ferne, die Berge und Hügel vortäuschen, Scheingebirge, Massen weißen Dampfs, die das eintönige Bild endlos gewellten Geländes freundlicher machen, und an wolkenlosen Tagen die Alfalfafelder, die sich bis zum Horizont erstrecken, einem niedrigen, fernen Horizont, über dem sich ein ungeheurer, unendlicher Himmel wölbt, ein Himmel, so gewaltig, dass er einem bis in die Fußspitzen fährt. Die kältesten Winter der Welt, dann brütend heiße, schwüle Sommer, sengende Hitze, die Millionen von Moskitos mit sich bringt, so viele Moskitos, dass es dort T-Shirts mit Bildern dieser mordlustigen Sturzbomber und der Aufschrift WAPPENTIER VON MINNESOTA zu kaufen gibt. Während deines ersten Besuchs dort, zwei Monate im Sommer 1981 , schriebst du das Vorwort zu deiner Anthologie französischer Dichtung des 20 . Jahrhunderts, einen ziemlich langen Text von gut vierzig Seiten, und da die Eltern deiner zukünftigen Frau in dieser Zeit nicht in der Stadt waren, hast du im Büro deines zukünftigen Schwiegervaters auf dem Campus des St. Olaf College gearbeitet, hast deine Ausführungen über Apollinaire, Reverdy und Breton in einem Zimmer fabriziert, das mit Bildern von Wikingerhelmen geschmückt war, bist jeden Morgen zu dem nahezu menschenleeren Campus gefahren, der dann plötzlich, als das College einige seiner Gebäude an die Jahresversammlung christlicher Trainer vermietete, zum Leben erwachte, und wie dich der Anblick dieser Trainer freute, wenn du morgens dein Auto parktest, Dutzende nahezu identisch aussehender Männer mit Bürstenschnitt, Bierbauch und Bermudashorts, und dann dein Zimmer in der norwegischen Fachabteilung aufsuchtest, um die nächsten paar Seiten über deine französischen Dichter zu schreiben. Du warst in Northfield, das sich selbst als «Heimat von Kühen, Colleges und Zufriedenheit» anpries, einem Ort mit rund achttausend Einwohnern, bestens bekannt als das Kaff, wo Jesse James und seine Bande bei einem versuchten Raubüberfall ihr Ende fanden (die Einschusslöcher im Mauerwerk der Bank an der Division Street sind noch heute zu sehen), aber dein Lieblingsplatz wurde bald die Malt-O-Meal-Fabrik am Highway 19 , aus deren hohen Schornsteinen weiße Wolken des nach Nüssen duftenden Getreides quollen, aus dem jene gelbbraunen, mehligen Frühstücksflocken hergestellt wurden, gelegen auf halbem Weg zwischen dem Haus deiner Schwiegereltern
Weitere Kostenlose Bücher