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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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hieltest, ein insgesamt gesünderes Wesen. Du warst verliebt, und zum ersten Mal in deinem Leben hat die Geliebte dich wiedergeliebt. Ihr kamt aus völlig verschiedenen Welten, eine junge Lutheranerin aus Minnesota und ein nicht ganz so junger Jude aus New York, aber nur zweieinhalb Monate nach eurer zufälligen Begegnung an jenem 23 . Februar vor dreißig Jahren wart ihr so weit, dass ihr zusammenziehen wolltet. Bis dahin war jede Entscheidung, die du in Sachen Frauen getroffen hattest, eine falsche Entscheidung gewesen – diese war es nicht.
     
    Sie studierte, und sie schrieb Gedichte, und in den ersten fünf Jahren, die ihr zusammen wart, sahst du sie ihr Studium beenden, die mündlichen Examen vorbereiten und ablegen und danach die mühselige Plackerei ihrer Dissertation hinter sich bringen (über Sprache und Identität bei Dickens). In dieser Zeit veröffentlichte sie einen Band mit Gedichten, und da das Geld zu Beginn eurer Ehe knapp war, nahm sie diverse Gelegenheitsjobs an, gab zum einen bei Zone Books eine dreibändige Anthologie heraus, redigierte zum anderen heimlich für jemanden eine Dissertation über Jacques Lacan, hauptsächlich aber betätigte sie sich als Lehrerin. In ihrer ersten Klasse saßen untere Angestellte einer Versicherungsgesellschaft, ehrgeizige junge Arbeiter, die ihre Beförderungschancen durch die Teilnahme an einem Intensivkurs in englischer Grammatik und schriftlichem Ausdruck verbessern wollten. Zweimal wöchentlich kam deine Frau mit Geschichten von ihren Schülern nach Hause, manche davon unterhaltsam, manche ziemlich bitter, aber die dir am besten in Erinnerung geblieben ist, handelte von einem komischen Malheur, das jemandem bei der Abschlussprüfung passiert war. Irgendwann hatte deine Frau im Unterricht von den verschiedenen Sprachfiguren gesprochen und unter anderem Euphemismen erwähnt. Als Beispiel hatte sie
dahinscheiden
als Euphemismus für
sterben
genannt. Bei der Abschlussprüfung bat sie die Schüler, das Wort
Euphemismus
zu definieren, und ein nicht ganz aufmerksamer Schüler stellte sich der Herausforderung und gab zur Antwort: «Euphemismus heißt
sterben
.» Von der Versicherungsgesellschaft wechselte sie zum Queens College, wo sie drei Jahre lang als Assistentin tätig war, ein aufreibender, schlechtbezahlter Job, zwei Kurse pro Semester – Förderunterricht Englisch und Stilübungen Englisch –, fünfundzwanzig Schüler pro Kurs, fünfzig Aufsätze pro Woche zu korrigieren, drei Einzelgespräche mit jedem Schüler pro Semester, jeden Morgen um sechs eine zweistündige Fahrt mit zwei Subways und einem Bus von Cobble Hill nach Flushing, nach getaner Arbeit das Ganze in entgegengesetzter Richtung, und das alles für ein Gehalt von achttausend Dollar im Jahr, ohne Sozialleistungen. Die langen Tage zermürbten sie, nicht nur die Arbeit und die Fahrerei, sondern auch die Stunden unter dem Neonlicht im Queens, hektisch flackerndem Licht, das bei Menschen, die an Migräne leiden, Kopfschmerzen auslösen kann, und da deine Frau seit ihrer Kindheit mit diesem Übel geschlagen ist, kehrte sie abends selten einmal ohne dunkle Ringe unter den Augen und schreckliche Kopfschmerzen nach Hause zurück. Mit ihrer Dissertation kam sie nur langsam voran, die Wochen waren so zerstückelt, dass für konzentriertes Recherchieren und Schreiben keine Zeit blieb, aber dann wurde deine finanzielle Lage plötzlich etwas besser, und es gelang dir, sie zu überreden, wenigstens ihre Lehrtätigkeit aufzugeben, und kaum war sie frei, brachte sie den Rest ihrer Dickens-Arbeit binnen sechs Monaten hinter sich. Die größere Frage lautete, warum sie überhaupt so entschlossen war, die Dissertation zu beenden. Anfangs schien ihr Studium sinnvoll: Eine alleinstehende Frau braucht Arbeit, besonders wenn diese Frau aus einer alles andere als reichen Familie stammt, und auch wenn sie eigentlich Schriftstellerin werden wollte, konnte sie sich nicht darauf verlassen, vom Schreiben leben zu können, und nahm sich daher vor, Professorin zu werden. Jetzt aber sah die Sache anders aus. Sie war verheiratet, ihre finanzielle Lage war nicht mehr ganz so prekär, sie hatte nicht mehr vor, sich nach einem Job in der akademischen Welt umzusehen, und trotzdem kämpfte sie weiter, bis sie die Promotion abgeschlossen hatte. Immer wieder hast du sie gefragt, warum ihr das so wichtig sei, und die verschiedenen Antworten, die du zu hören bekamst, sind überaus bezeichnend für die Person, die sie damals war und

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