Winterjournal (German Edition)
und der Ortsmitte, nur wenige hundert Meter vor den Eisenbahngleisen, vor denen du in diesem Sommer eines Nachmittags halten musstest, um einen langsam fahrenden Zug vorbeizulassen, den längsten Zug, den du je gesehen hast, mindestens hundert, wenn nicht zweihundert Güterwaggons lang, aber du hattest keine Zeit, sie zu zählen, weil du und deine damals noch zukünftige Frau ins Gespräch vertieft wart, hauptsächlich über die Wohnung, die ihr nach eurer Rückkehr nach New York suchen wolltet, bei welcher Gelegenheit dann auch zum ersten Mal das Thema Heiraten zur Sprache kam, nicht einfach so unter einem Dach zusammenleben, sondern als Eheleute, das war es, was sie wollte, das war es, worauf sie bestand, und obwohl du beschlossen hattest, nie mehr zu heiraten, sagtest du, selbstverständlich würdest du sie mit Freuden heiraten, wenn es das war, was sie wollte, denn inzwischen liebtest du sie lange genug, um zu wissen, dass alles, was sie wollte, auch genau das war, was du wolltest. Deswegen hast du in diesem Sommer so genau auf deine Umgebung geachtet, denn dies war das Land, wo sie ihre Kindheit und frühe Jugend verbracht hatte, und du glaubtest sie noch besser kennenlernen, noch besser verstehen zu können, wenn du die Einzelheiten dieser Landschaft studiertest, und als du dann mit ihren Eltern und ihren drei jüngeren Schwestern Bekanntschaft machtest, begannst du nach und nach auch ihre Familie zu verstehen, was dir wiederum half, sie selbst noch besser zu verstehen, den festen Boden zu fühlen, auf dem sie sich bewegte, denn dies war eine stabile Familie, keine so zerrissene, provisorische Familie wie die, in der du aufgewachsen warst, und es dauerte nicht lang, da wurdest du einer von ihnen, denn zu deinem immerwährenden Glück war dies nun auch deine Familie.
Dann kamen die Winterbesuche, die Heimreisen zum Jahreswechsel, eine Woche bis zehn Tage in der Stille einer erfrorenen Welt, im Hagel eisiger Dolche, die deinen Körper durchbohrten, morgens der Blick durchs Küchenfenster aufs Thermometer, das rote Quecksilber bei minus dreißig Grad Celsius, minus fünfunddreißig, Temperaturen, menschlichem Leben so feindlich, dass du dich oft gefragt hast, wie man in einer solchen Gegend leben kann, vor deinem inneren Auge Bilder von Sioux-Familien, von Kopf bis Fuß in Büffelfelle gehüllt, Pionierfamilien, erfroren in dieser tundragleichen Prärie. Keine Kälte wie diese Kälte, eine unmögliche Kälte, die die Muskeln in deinem Gesicht betäubt, sobald du einen Schritt ins Freie tust, die auf deine Haut eintrommelt, die deine Haut zusammenzieht, die das Blut in deinen Adern stocken lässt, und doch ging einmal, vor nicht so vielen Jahren, die ganze Familie in die Dunkelheit hinaus, um das Nordlicht zu beobachten, das einzige Mal, dass du es gesehen hast, unvergesslich, unvorstellbar – in der Kälte stehen und in einen elektrisch grünen Himmel emporblicken, einen grün flammenden Himmel vor der schwarzen Wand der Nacht, nie hast du jemals etwas geschaut, das der hektischen Pracht dieses Schauspiels gleichgekommen wäre. In anderen Nächten, klaren wolkenlosen Nächten, ein Himmel randvoll mit Sternen, vollgestopft von Horizont zu Horizont, mehr Sterne, als du jemals anderswo gesehen hast, so viele Sterne, dass sie zu kompakten Flächen zusammenfließen, ein Brei aus weißem Licht da oben, und dann die weißen Morgen, die weißen Nachmittage, der Schnee, der Schnee, der unaufhörlich überall fällt, dir bis an die Knie geht, bis an die Hüften, wächst und wächst wie die Sonnenblume, die dir als Kind im Garten deiner Mutter über den Kopf schoss, mehr Schnee, als du jemals anderswo gesehen hast, und plötzlich durchlebst du aufs Neue einen Augenblick in den Neunzigern, als du mit Frau und Tochter die jährliche Weihnachtspilgerfahrt nach Minnesota unternommen hattest, du hinterm Steuer in einer Blizzardnacht, auf dem Weg vom Haus einer Schwester deiner Frau in Minneapolis zum Haus ihrer Eltern in Northfield, einer Strecke von knapp vierzig Meilen. Auf der Rückbank drei Generationen von Frauen (deine Schwiegermutter, deine Frau und deine Tochter) und rechts neben dir, auf dem Beifahrersitz, dein Schwiegervater, ein Mann, der dich in den Jahren deiner Ehe mit seiner ältesten Tochter immer freundlich behandelt hat, ein im Übrigen in mancher Hinsicht reservierter, verschlossener Mensch, ganz ähnlich wie dein Vater es war, beide hatten eine harte Kindheit in ärmlichen Verhältnissen durchlebt, im
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