Winterkill
?«
»Sie bleibt über Nacht.«
»Und ich dachte, du wärst schon jenseits von Gut und Böse«, erwiderte der Polizist grinsend. Er wollte auf Sarah zugehen und sie sich näher ansehen, wurde aber durch seinen Kollegen aus dem Streifenwagen zurückgerufen. Ein dringender Funkspruch aus der Zentrale. »Treib es nicht zu toll«, verabschiedete er sich von dem Indianer, »sonst muss ich dir die Sitte auf den Hals schicken.«
Jonathan wartete, bis die Cops verschwunden waren, und kehrte zu den anderen zurück. Er schleppte eine verrostete Regentonne, die im Abfall neben dem Brückenpfeiler lag, zu der Feuerstelle, klopfte den Schnee mit einem Lumpen herunter, und machte sich wortlos daran, ein neues Feuer in der liegenden Tonne zu entzünden. In der windgeschützten Öffnung kam es schnell in Gang. Er legte etwas von dem Holz nach, das er in seiner Hütte trocken hielt. »Passt gut darauf auf«, sagte er zu den Zwillingen und Elaine.
»Und du?«, fragte Elaine. Sie hatte sich eine Zigarette gedreht und sie nach mehrmaligen Versuchen endlich in Brand gesteckt. »Was machst du?«
»Er vögelt die Kleine, das hast du doch gehört«, erwiderte einer der Zwillinge. »Lässt du uns auch mal ran, Geronimo? Ich hab schon seit ’ner Ewigkeit keine Frau mehr gehabt, weißt du?«
Jonathan richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Trotz seines Alters war das noch ein eindrucksvoller Anblick. »Niemand berührt sie. Sie steht unter meinem Schutz. Habt ihr verstanden?«
»Schon gut, Mann! War nur so ’ne Idee. Wir lassen sie in Ruhe, okay?«
Sarah beobachtete, wie der Indianer zufrieden nickteund zu ihr zurückkehrte. »Du hast mir das Leben gerettet«, empfing sie ihn dankbar. »Du hast den Wendigo besiegt. Du hast ihn mit einem heiligen Lied vertrieben, nicht wahr?«
»Vertrieben habe ich ihn«, stimmte Jonathan zu, »besiegt habe ich ihn nicht. Besiegen kann man den Wendigo nur mit Feuer … mit einem so starken Feuer, wie es ein einfacher Mann wie ich niemals entfachen kann. Einige unserer Stammesbrüder behaupten, nur das Feuer aus einem Vulkan könnte seinen frostigen Körper zerstören. Aber sicher ist auch das nicht. Du kennst die Legende von seinem eiskalten Herz, das selbst die stärkste Feuersbrunst überlebt?«
»Ich erinnere mich nicht daran.«
»Niemand erinnert sich gern daran. Wir alle haben die Geschichte als Kinder gehört, doch als Erwachsener will niemand etwas davon wissen. Der Wendigo ist ein Fabelwesen, sagen sogar Indianer. Aber du weißt es besser, nicht wahr? Du hast ihn gesehen.«
»Er will mich töten«, sagte Sarah. Plötzlich sprudelte alles aus ihr heraus, was in den letzten Stunden passiert war. Ihre verzweifelte Flucht vor den Killern, die heimtückischen Angriffe des Wendigo, der angebliche Selbstmord von Candy Morgan. Nur Ethan verschwieg sie. »Was soll ich nur tun, Großvater? Ich will noch nicht sterben.«
Jonathan saß ihr gegenüber und blickte stumm vor sich auf den Boden. Minutenlang verharrte er regungslos in dieser Stellung, wie ein asiatischer Mönch, der mit geschlossenen Augen meditierte. Sie befürchtete schon, er wäre eingeschlafen und hätte ihr gar nicht zugehört, als er den Kopf hob und die Augen öffnete. »Du kennst die Geschichte vom Wendigo? Er kommt mit den Winterstürmen aus dem hohen Norden und schnappt sich einsame Jäger in den Wäldern. In besonders strengen Winternwurde er auch in den Dörfern weiter südlich gesehen. In einer großen Stadt wie Chicago ist er noch niemals aufgetaucht. Nicht, solange ich lebe, und ich lebe schon sehr lange.«
»Was willst du damit sagen?«
»Jemand hat ihn auf dich gehetzt. Ein Mann, der mit den bösen Geistern in Verbindung steht und sich an dir rächen will. Gibt es einen solchen Mann?«
»Einen Mann, der mich so hasst, dass er mich töten will?«, fragte Sarah entsetzt. »Ich habe niemandem etwas getan. Auch Candy nicht … Es sei denn …«
»Du erinnerst dich?«
Sarah schüttelte entrüstet den Kopf. »Aber das wäre vollkommen abwegig. Nein, das kann nicht sein. Es gibt einen Schamanen in Grand Portage. Er nennt sich selbst einen heiligen Mann. Niskigwun. Er war wütend auf Candy und mich, auch auf Wendy und Flo, zwei andere Mädchen, weil wir früher Bobby, seinen Sohn, gehänselt haben. Nichts Schlimmes, so was passiert jeden Tag in der Schule. Dann brachte sich Bobby um. Bei der Beerdigung, einer indianischen Zeremonie ohne Pfarrer, blickte er uns vorwurfsvoll an, als hätten wir schuld am Tod seines Sohnes
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